116 Nationalitäten und überdurchschnittliche Exportquote
Groß-Gerau freut sich auf die Europatage, die vom 12. bis 14. Mai in vielfältiger Weise gefeiert werden. WIR-Redakteur Rainer Beutel (l.) hat Bürgermeister Stefan Sauer zu diesem Anlass interviewt und stieß auf einen überzeugten Verfechter des europäischen Gedankens.
Herr Bürgermeister Sauer, Groß-Gerau feiert Europa-Tage, Europa feiert „60 Jahre römische Verträge“. Was feiern Sie denn ganz persönlich, wenn Sie an Europa denken?
Stefan Sauer: Es ist die Freude an der Vielfalt, die Europa in sich trägt. Eine stetige Neugierde auf „fremde Gewohnheiten“ und der Anspruch voneinander zu lernen. Bei Reisen in Europa hatte ich zahlreiche freundliche und herzliche Begegnungen, die ich nicht missen möchte. Es waren aufbauende, aufrichtige Momente. Zur Festlichkeit „60 Jahre römische Verträge“ passt unsere Ringpartnerschaft mit Brignoles, Bruneck, Tielt, Szamotuły, die bereits seit Juli 1959 besteht. In den vergangenen zehn Jahren durfte ich aktiv mitwirken und in diesem Jahr darf ich das zweite Mal Gastgeber sein.
Welchen Stellenwert hat ein geeintes Europa für eine vergleichsweise kleine Stadt wie Groß-Gerau? Man denke an den Brexit in Großbritannien, politisch-wirtschaftliche Krisen im Mittelmeerraum – was davon wirkt sich bis in die Kreisstadt aus?
Stefan Sauer: Groß-Gerau ist Teil der Rhein-Main-Region und entsprechend international. Frankfurt als europäische Metropole sowie der nahegelegene Flughafen begünstigen diese Situation. 116 Nationalitäten leben in Groß-Gerau, Spannungen bleiben da nicht aus. Doch wir leben ein entspanntes Miteinander, wofür auch Europa steht. Als Mittelzentrum sind wir Wirtschaftsstandort mit internationaler Abhängigkeit. Die Exportquote lag 2015 in Groß-Gerau bei 61,1 Prozent. Hessenweit lag der Durchschnitt bei 51 Prozent. Wenn sich die internationalen Märkte abschotten, wirkt sich dies direkt sowohl auf die 10.800 Arbeitsplätze in der Kreisstadt Groß-Gerau als auch auf die Gewerbesteuer aus. Mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Groß-Gerau müssen wir daran interessiert sein, dass Fachkräfte leicht ihren Weg zu uns finden. Reisefreiheit und unkomplizierte Beschäftigungsverhältnisse sind daher entscheidend für die Standortzufriedenheit. Wir sind ausgezeichneter Wohnort für Fach- und Führungskräfte, dieses Prädikat müssen wir uns bewahren.
Was kann die Kreisstadt, was können die Bürger von Groß-Gerau für Europa tun?
Stefan Sauer: 2016 gab es elf Begegnungen mit den Partnerkommunen. Daran nahmen einige hundert Bürger aus Groß-Gerauer Vereinen und Institutionen teil. Dies dokumentiert die Lebendigkeit der Partnerschaft. Beispielhaft zu nennen sind die freundschaftlichen Kontakte zwischen den Europäischen Freundeskreisen, den Feuerwehren, Karnevalvereinen, Fotoclubs, Tanz- und Musikgruppen, Schützenvereinen, Sportvereinen sowie die vielen privaten Verbindungen, die sich entwickelt haben. Ich wünsche mir, dass viele Groß-Gerauer und auch Bürger der Nachbarkommunen an den Europa-Tagen in Groß-Gerau teilnehmen und unsere europäischen Gäste kennenlernen.
Und wie sieht es mit der Jugend aus? Inwiefern sind junge Menschen aus Groß-Gerau in einen europapolitischen Entwicklungsprozess integriert?
Stefan Sauer: Die Jugend steht im Fokus zahlreicher Aktivitäten, Schulen wie Vereine sind stark eingebunden. Seit 1979 veranstalten wir im Wechsel mit den Partnerstädten jährlich ein Jugendcamp. Diese Camps erlebe ich kreativ, lebendig, voller Freude, manchmal auch mit „Herzschmerz“. Häufig entstehen Freundschaften, die mit den technischen Möglichkeiten von heute leicht aufrecht zu erhalten sind. Zudem fördern wir Austauschfahrten von lokalen Schulen, denn die Jugend ist entscheidend für das Europa von morgen. Die Zukunft liegt im Miteinander, nicht im Gegeneinander. Kriege sind Ausdruck menschlichen Versagens und stets eine Katastrophe für die Zivilbevölkerung.
Begegnen Ihnen in Groß-Gerau europakritische Strömungen und wenn ja, wie gehen Sie damit um?
Stefan Sauer: Europakritische Bewegungen in der Kreisstadt sind mir nicht bekannt.
Sind die Europa-Tage in Groß-Gerau Ihrer Meinung nach also noch zeitgemäß oder jetzt gerade wichtiger denn je?
Stefan Sauer: Europa ist zeitlos, jedoch stetig im Wandel. Die inhaltliche Ausgestaltung entscheidet darüber, ob die Europa-Tage zeitgemäß sind. Für mich sind sie angesichts von Brexit und der Wahl in Frankreich wichtiger denn je, da sie zum politischen Image Europas beitragen. 180 Teilnehmer aus den Partnerstädten verdeutlichen die Freude an gemeinsamen Erlebnissen. Der Austausch hat in jüngerer Zeit an Tiefe gewonnen, hat sich vom reinen Feiern hin zu mehr thematischer Auseinandersetzung verlagert – das war wichtig. Wir müssen uns zu Europa bekennen, bevor nationales Gedankengut Europa spaltet und damit im Kern zerstört.
Die Europatage 2017 in Groß-Gerau
Ansprechpartnerin: Sabine Eberlein ist als Mitarbeiterin im Amt für Sport, Kultur und Vereine zuständig für die Kommunikation mit den Verwaltungen der vier europäischen Partnerkommunen. Bei ihr laufen die Fäden zusammen. Sie organisiert, koordiniert und betreut die Delegationsbesuche und unterstützt Vereine, Schulen und Privatpersonen, die in die Partnerstädte reisen oder Kontakt knüpfen wollen. Ferner kümmert sie sich um den Europäischen Freundeskreis Groß-Gerau und die Partnerschaftskomitees in den Schwesterstädten. Die Ansprechpartnerin ist telefonisch erreichbar unter (06152) 716278 und per E-Mail unter sabine.eberlein@gross-gerau.de.
Die Partnerschaften: Als eine der ersten Städte Deutschlands ist Groß-Gerau am 11. Juli 1959 eine Ringpartnerschaft eingegangen. Dabei schließen mehrere beteiligte Städte untereinander ein Partnerschaftsabkommen. Dazu gehören Brignoles (Provence/Frankreich), Bruneck (Südtirol/Italien) und Tielt (Westflandern/Belgien). Am 9. Mai 1989 wurde mit der Stadt Szamotuły (Woiwodschaft Wielkopolska/Polen) ein Freundschaftsvertrag vereinbart, der am 14. Mai 2000 in eine offizielle Partnerschaft umgewandelt und in die Ringpartnerschaft eingegliedert werden konnte.