Abschied vom Bundestag

Von Rainer Beutel und Ulf Krone.

Die Bundestagswahl hat einiges verändert im politischen Gefüge unseres Landes. Neben den machtpolitischen Verschiebungen bringt eine Wahl immer auch Personalwechsel mit sich. So verabschieden sich – auf eigenen Wunsch – nach langen Jahren im Bundestag auch Dr. Franz Josef Jung (CDU) und Gerold Reichenbach (SPD) von der politischen Bühne in Berlin. Grund genug für die WIR-Redakteure Rainer Beutel und Ulf Krone, bei den langjährigen Vertretern des Kreises im Bund nachzufragen: Wie fällt ihr persönliches Fazit aus, wie bewerten sie die Bundestagswahl, und was kommt nach Berlin?

Mit Dr. Franz Josef Jung hat ein politisches Schwergewicht die bundespolitische Bühne verlassen. Im seinem Wahlkreis war und bleibt Jung ein geschätzter und kompetenter Ansprechpartner der Menschen. Für das WIR-Magazin nahm er sich gerne Zeit, Fragen zu seinem Nachfolger ebenso geduldig zu beantworten wie zu seiner persönlichen Bilanz.

Glücklich über Sauer, betrübt über AfD-Ergebnis

Herr Dr. Jung, was sagen Sie zu Ihrem Nachfolger, dem bisherigen Groß-Gerauer Bürgermeister Stefan Sauer?

Dr. Franz Josef Jung: Über Stefan Sauer kann ich nur sehr, sehr Positives sagen. Ich bin sehr froh, den Staffelstab an einen kompetenten Mann mit großer politischer Erfahrung und hohem kommunalpolitischem Engagement weitergeben zu können. Und glücklich bin ich, dass er das Direktmandat gewonnen hat.

… und was sagen Sie zum Ausgang der Bundestagswahl?

Dr. Franz Josef Jung: Bei diesem Ergebnis kann ich nicht zufrieden sein, ich hätte ein besseres Resultat erwartet. 32,9 Prozent, das ist alles andere als optimal. Wie wir wissen, für die CDU das zweitschlechteste Ergebnis seit 1949. Über 40 Prozent musste das Ziel sein. Immerhin ist die CDU weiterhin stärkste Fraktion, dieses Ziel haben wir ebenso erreicht wie dass Angela Merkel Kanzlerin bleiben wird. Die Koalitionsverhandlungen dürften aber, wie wir zwischenzeitlich sehen, ein ziemlicher Kraftakt sein.

Machen Sie sich Sorgen wegen des Abschneidens der AfD?

Dr. Franz Josef Jung: Das Ergebnis für die AfD ist sehr betrüblich. Zunächst müssen wir das akzeptieren, nun aber muss die Politik der AfD die Basis für die Zustimmung entziehen. Dabei geht es in erster Linie um die Integrations- und Flüchtlingspolitik. Wenn dort richtig nachjustiert wird, haben wir eine gute Chance, dass die AfD den gleichen Weg geht wie die Republikaner.

Zu Ihnen persönlich: Ziehen Sie sich komplett aus der Politik zurück? Was haben Sie in den nächsten Jahren vor?

Dr. Franz Josef Jung: Nein, aus der Politik ziehe ich mich nicht zurück. Ich werde Reden und Vorträge halten und mich weiterhin in der Konrad-Adenauer-Stiftung engagieren. Mehr Zeit habe ich natürlich für meinen Beruf als Rechtsanwalt und Notar in Eltville, aber ich bin auch weiterhin Aufsichtsratsmitglied bei Rhein-Metall.

Also werden wir vorerst den Rentner Franz ­Josef Jung nicht erleben?

Dr. Franz Josef Jung: Nein, man sollte nicht von Hundert sofort auf Null runterfahren. Wenn ich bislang etwa eine 70-Stunden-Woche hatte, sind es künftig vielleicht 50 Stunden.

Wie fällt über all die Jahre Ihre persönliche Bilanz aus? Was ist Ihnen als Politiker gelungen?

Dr. Franz Josef Jung: Als Generalsekretär der Hessischen CDU konnte ich maßgeblich mitwirken an der Einheit und der Partnerschaft von Hessen und Thüringen, aber natürlich auch an der Gründung der Allianz für Deutschland. Ich bin überzeugt, wenn dies nicht gelungen wäre, die deutsche Einheit wäre anders gelaufen. Als früherer Bundesverteidigungsminister möchte ich mein besonderes Engagement für die Bundeswehr betonen. Unter anderem wurde die Tapferkeitsmedaille und die Einrichtung der Ehrenmale für Bundeswehrsoldaten eingeführt, die in der Ausübung ihres Dienstes ums Leben gekommenen sind. Außerdem wurde dafür gesorgt, dass verwundete Soldaten nicht einfach zur Versorgung abgeschoben werden, sondern weiterhin für die Bundeswehr tätig sein können.

Was wäre noch zu erledigen?

Dr. Franz Josef Jung: Im Bereich der Flüchtlings- und Integrationspolitik ist es wichtig, klar abzugrenzen, wer hat ein Recht, einzureisen und wer nicht. Das ist ein besonders schwieriges Feld.

Bitte vervollständigen Sie die folgenden Sätze: In meiner Zeit als Bundestagsabgeordneter hat mich am meisten bewegt,…

… mein Engagement als Verteidigungsminister, die Bewältigung der finanziellen und wirtschaftlichen Krise und erneut die Flüchtlingspolitik. Hier im Kreis war es die Bereitstellung von einer 1,25 Milliarden Euro hohen Bürgschaft für Opel. Wenn es die nicht gegeben hätte, gäbe es Opel vielleicht nicht mehr.

Von meinem Wahlkreis Groß-Gerau habe ich gelernt …

… viel und intensiv mit den Menschen zu reden, um frühzeitig die Probleme zu erkennen und einzugreifen, etwa wie bei Opel, der Dornheimer Umgehung oder beim Lärmschutz an der Bahn.

Wenn es möglich wäre, würde ich mich heute nicht mehr dafür entscheiden, …

… Arbeitsminister zu werden. Ich hätte sagen sollen: Entweder Verteidigungsminister oder gar nichts.*

Wagen Sie einen Ausblick: Was halten Sie in den nächsten Jahren für die wichtigste Aufgabe der Politik im Bund?

Dr. Franz Josef Jung: Einer der wichtigen Punkte ist es, Entscheidungen so zu treffen, dass es für die AfD keine Grundlage gibt. Darüber hinaus geht es um die weiterhin positive Entwicklung der Wirtschaft und bei den Arbeitsplätzen sowie die Zusammenführung von Europa.

Und im Kreis Groß-Gerau?

Dr. Franz Josef Jung: Hier geht es besonders um Infrastrukturmaßnahmen vom Lärmschutz bis zu den Arbeitsplätzen. Sie wissen, dass die meisten Leute aus dem Kreis Groß-Gerau beim Flughafen in Frankfurt arbeiten, es geht hier um die ausgewogene Verbindung von Ökonomie und Ökologie.

Wann und wo können Sie die Bürger künftig in ihrem ehemaligen Wahlkreis antreffen und mit Ihnen reden?

Dr. Franz Josef Jung: Ich habe weiterhin den Kontakt zur CDU-Kreisgeschäftsstelle in der Odenwaldstraße 5 in der Kreisstadt, man kann mich aber auch über mein Anwalts- und Notariatsbüro in Eltville erreichen. Ich stehe den Menschen weiterhin immer gerne als Ansprechpartner zur Verfügung.

Gesprächspartner: Rainer Beutel

Stationen: Dr. Franz Josef Jung, geboren im März 1949, arbeitete nach seinem Jurastudium an der Universität in Mainz zunächst als Rechtsanwalt und Notar in Eltville. Aus einer bewegten politischen Karriere ragen folgende Stationen heraus: 1981 bis 1983 stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU, 1983 bis 2005 Landtagsabgeordneter, 1987 bis 1991 Generalsekretär der CDU Hessen, 1987 bis 1999 Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion, 1998 bis 2014 stellvertretender Landesvorsitzender der hessischen CDU, seit 1998 Mitglied des Bundesvorstands der CDU, 1999 bis 2000 Hessischer Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der CDU Staatskanzlei, 2003 bis 2005 CDU-Fraktionschef im Hessischen Landtag, seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags, 2005 bis 2009 Bundesverteidigungsminister, 28. Oktober 2009 bis 30. November 2009 Bundesminister für Arbeit und Soziales. Zuletzt stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Außen- und Sicherheitspolitik sowie für den Europarat.

*Anm. d. Red.: Jung war nach wenigen Wochen zurückgetreten, weil ihm vorgeworfen worden war, als Verteidigungsminister die Öffentlichkeit nicht korrekt über die Tötung von Zivilisten in Kundus/Afghanistan informiert zu haben.

 

 

Es gab Licht und Schatten

Nach 15 Jahren als Mitglied des Deutschen Bundestags ziehen Sie sich nun auf eigenen Wunsch aus der Bundespolitik zurück. Wie fällt Ihr persönliches Resümee aus, und was nehmen Sie aus Ihrer Zeit in Berlin mit?

Gerold Reichenbach: Wie sonst auch im Leben, es gab Licht und Schatten. Der internationale Dumpingwettbewerb bei Steuern und Sozialstandards hat uns in eine faktische Erpressungssituation geführt. Das gleiche galt für die Finanzkrise. Manche Entscheidungen waren für mich schwer. Aber hätten wir nicht reagiert, wären Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze aus Deutschland abgezogen worden. Dies hätte noch dramatischere Folgen für unser Sozialsystem gehabt. Der große Fehler der SPD war, dass wir nicht deutlich gemacht haben, dass viele dieser Einschnitte nicht von uns gewollt waren, sondern wirtschaftlichem Druck oder fehlenden Mehrheiten geschuldet waren, und wir alles daran setzen werden, das wieder zu verändern und rückgängig zu machen. Vieles konnte aber auch auf den Weg gebracht werden. Das gilt sowohl für den Wahlkreis wie auch auf Bundesebene. Etwa die Altrheinsanierung in Ginsheim-Gustavsburg oder die Unterstützung der Hafenerweiterung in Gernsheim, um nur zwei Beispiele zu nennen Und im Kleinen konnte so manchem Bürger, der mit seinem Anliegen in die Bürgersprechstunde kam, direkt geholfen werden.

Auf Bundesebene habe ich, glaube ich, in meinen Fachgebieten einiges bewirkt. Bei der inneren Sicherheit war ich einer derjenigen, die vor zehn Jahren die allererste Diskussion um die Folgen eines Stromausfalles und anderer kritischer Infrastrukturen angestoßen und zusammen mit anderen Themen des Katastrophenschutzes stärker in den Vordergrund gerückt hat. Beim Thema Cybersicherheit haben wir einige gute gesetzliche Reglungen zustande gebracht und auch bei der Umsetzung der Europäischen Datenschutzverordnung in deutsches Recht ist es gelungen, dem Daten- und Verbraucherschutz den Rücken zu stärken.

Seit Ihrem Einzug in den Bundestag 2002 hat die SPD turbulente Jahre hinter sich. Wo sehen Sie die SPD heute, und was möchten Sie Ihrer Partei für die Zukunft mit auf den Weg geben?

Gerold Reichenbach: Wir müssen über Sachzwänge und tagespolitische Kompromisse hinaus viel stärker unsere eigenen gesellschaftspolitischen Ziele in den Vordergrund stellen. Unsere Vorstellung, wie die Welt sicherer, sozialer und gerechter sein könnte. Martin Schulz hat Recht, wenn er sagt, wir müssen uns auch wieder trauen, grundsätzliche Kapitalismuskritik zu üben. Die Menschen spüren doch jeden Tag, dass inzwischen was gewaltig schief läuft. Einige wenige werden immer reicher und mächtiger. Gleichzeitig wird es für die meisten anderen immer enger und schwieriger. Trotz harter Arbeit geht es für die Mehrheit nicht mehr richtig voran und es droht der soziale Abstieg. Auch in der sogenannten Mitte wächst mittlerweile die Angst, in diesen Abstieg hineingezogen zu werden. Darüber hinaus möchte ich mich mit öffentlichen Ratschlägen an meine Partei zurückhalten. Es gibt genug eitle Ex-Politiker, die in Talkshows denjenigen, die in der Verantwortung stehen, das Leben schwer machen.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen für die Politik in den kommenden Jahren – sowohl im Bund als auch auf regionaler und kommunaler Ebene?

Gerold Reichenbach: Der Zusammenhalt der Gesellschaft und Europas. Ich habe selbst bei meinen THW-Einsätzen auf dem Balkan erlebt, wohin es führt, wenn eine Gesellschaft auseinanderbricht und rechte Nationalisten die Menschen aufeinander hetzen: ehemals friedliche Nachbarn fallen grausam übereinander her. Soweit darf es nicht kommen!
Hinzu kommen die Herausforderungen aus dem digitalen Wandel, der erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitswelt unsere Privatsphäre und unsere Sicherheit haben wird. Man denke nur daran, was heute alles von einer funktionierenden Datenverarbeitung und Kommunikation abhängt, von der Wasser- und Lebensmittelversorgung bis zum Notruf.
All diese Herausforderungen stellen sich auf allen Ebenen – vom Bund über die Bundesländer bis hin in die kleinste Gemeinde.

Wie geht es für Sie persönlich nun weiter: den Ruhestand genießen, oder gibt es Pläne für die Zeit nach Berlin?

Gerold Reichenbach: Mehr Zeit für mich, für Familie und Freunde. Konkrete Pläne darüber hinaus habe ich noch keine. Ich lasse diesen neuen Lebensabschnitt jetzt einfach auf mich zu kommen.

Sie zeichnen auch Karikaturen. Wie würden Sie Ihre Jahre in der Bundespolitik darstellen? (gern in Form einer Zeichnung)

Gerold Reichenbach: Etwas überzeichnet so:

Gesprächspartner: Ulf Krone

Stationen: Gerold Reichenbach, geboren am 28.09.1953 in Geinsheim, arbeitete nach seinem Lehramtsstudium in Frankfurt und dem Referendariat in Rüsselsheim als Gymnasiallehrer in Darmstadt und Groß-Gerau. Seine wichtigsten politischen Stationen: 1976 Eintritt in die SPD, 1981-99 Mitglied der Gemeindevertretung Trebur, 1984-2014 Mitglied des SPD-Unterbezirkvorstandes Groß-Gerau, von 2008 bis 2010 Vorsitzender, 1988-2010 Mitglied des Kreistages, 1995-2002 Mitglied des Hessischen Landtages, 1998-99 und 2001-15 Mitglied im Vorstand des SPD-Bezirks Hessen-Süd, seit 2002 Mitglied des Bundestages. 16. und 17. Legislaturperiode: Mitglied im Innenausschuss (Berichterstatter für Datenschutz sowie Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe) und Mitglied im Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement sowie Mitglied und stellvertretender Vorsitz der Enquete Kommission Internet und digitale Gesellschaft, Initiator und Mitbegründer des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit. 18. Legislaturperiode: Mitglied im Innenausschuss, Mitglied und stellvertretender Vorsitzender im Ausschuss Digitale Agenda, Mitglied im Gremium Akustische Überwachung.

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