Als Azubis noch Lehrlinge waren
Von W. Christian Schmitt.
Mit dem Format „Damals/heute“ wollen wir für unsere Leser das journalistische Angebot des WIR-Magazins erweitern. Dabei geht es um Selbst-Erlebtes vor 50 und mehr Jahren und um das, was sich bis heute verändert hat. Diesmal erinnert sich WIR-Herausgeber W. Christian Schmitt an seine Zeit als Werkzeugmacher-Lehrling im Press- und Stanzwerk Faulstroh und daran, was ihm überdies damals in der Groß-Gerauer Kreisberufsschule alles beigebracht wurde.
Möglicherweise gab es den Begriff Azubi noch gar nicht, damals, im April 1961, als meine Zeit als Lehrling bei der Firma Faulstroh begann. Um 6.15 Uhr hatten wir allmorgendlich in der Lehrlingsabteilung anzutreten und unseren im grünen Kittel erscheinenden Chefausbilder mit den Worten zu begrüßen: „Guten Morgen, Meister“, worauf dieser erwiderte „Guten Morgen, Lehrlinge“. Und dann begann das Tageswerk, bei dem es um das Erlernen von feilen, bohren, fräsen, drehen, hobeln, sägen, löten, schleifen bis hin zu schweißen, Zusammenbau von Werkzeugen und später sogar den (vierwöchigen) Einsatz an einer Presse ging. All das, was damals in einer 42-Stunden-Woche an Fertigkeiten und Wissen vermittelt wurde, musste protokolliert werden in einem sogenannten Wochenbericht.
Nur gut, dass ich all die Blätter gesammelt und in einem Band aufbewahrt habe. Denn dies hilft – nach all den Jahren – sich an das zu erinnern, was damals mein täglich Brot war. Im Wochenbericht Nr. 1 ist festgehalten, dass der „Wochenspruch“ lautete: „Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag“ und dass meine „Kontroll-Nr.“ die Ziffernfolge 1366 hatte. Als Lehrlingsgehalt, seinerzeit „Ausbildungsbeihilfe“ genannt, gab es im ersten Lehrlingsjahr monatlich „DM 81 brutto“. Heute können Azubis in diesem Beruf, der sich seit geraumer Zeit „Werkzeugmechaniker“ nennt, im ersten Lehrjahr mit „bis zu 930 Euro brutto“ im Monat rechnen.
Da ich den Schulabschluss „Mittlere Reife“ vorweisen konnte, reduzierte sich meine Lehrzeit von dreieinhalb auf drei Jahre, die mit der Fertigung eines Gesellenstücks abgeschlossen wurde. Dieses sieht (Foto) eher unscheinbar aus, steht noch heute in meinem Bücherregal, kostete jedoch nicht nur während der Abschlussprüfung viel Müh und Schweiß. Neben der praktischen, gab es zudem die theoretische Ausbildung, die wöchentlich sowohl in Faulstrohs Lehrlingsabteilung als auch in der Berufsschule erfolgte, wo seinerzeit noch Dr. Franz Skala als Schulleiter amtierte. Klassenlehrer war Wilhelm Diehl, für den „die Werkzeugmacher“ eine Vorzeigeklasse waren (Foto). An ihn erinnerte man sich noch heute, als ich bei den „Beruflichen Schulen Groß-Gerau“ nachfragte, ob ich noch einmal in einer Werkzeugmacher-Klasse am Unterricht teilnehmen dürfe. Studiendirektorin Sabine Kämpf machte es möglich, allerdings mit dem Hinweis, dass in der Kreisstadt keine Werkzeugmacher mehr geschult würden und ich nur eine Mechatroniker-Klasse besuchen könne.
Um 7.30 Uhr war ich im Schultrakt in der Gernsheimer Straße zur Stelle und bereit zu (m)einer Zeitreise. Alles schien mir so fremd hier, was sicher auch die „Mitschüler“ über mich dachten. Zwar verstand ich nicht alles, was der Lehrer anhand neuester Technik sowie zahlreicher Lehrblätter auf einer Leinwand zu erklären versuchte, aber ich hatte zumindest das Gefühl, den Schülern, die aus dem gesamten Kreisgebiet sowie gar aus Rheinland-Pfalz und Oberhessen kamen, eines voraus zu haben: Ich habe meine Gesellenprüfung schon hinter mir. Es ging um „Zweipuls-Brückenschaltungen“, um „Halbleiterbauelemente“, um eine „Formelsammlung Asynchronmotoren“, „Parallelkompensationen“ und manch anderes mehr. Da war von 3. Wurzel, von Läuferspannungen und gar cos-Funktionen die Rede – all dies eher böhmische Dörfer für mich. Ach, wie war das damals noch vergnüglich, als wir in den Fachkundestunden uns mit Hartguss, Temperguss, dem Kohlenstoffgehalt von Grauguss und manch anderen Themen zu beschäftigen hatten. Es gab kaum Rückfragen etwa derart: Wie haben Sie das gemeint? Was mir zudem auffiel: Es gab gar keine Tafel mehr, an der der Einzelne dem Rest der Klasse hätte erklären können, ob oder wie er das Vorgetragene verstanden habe.
In der Pause habe ich dann bei meinen „Mitschülern“ nachgefragt: Nimmt ein Mechatroniker heute noch eine Feile in die Hand? Gehören das Bohren, Fräsen, Schleifen, Schweißen und dergleichen mehr. noch zur Grundausbildung? Mehr noch wollte ich wissen, wie man sich als Azubi fühlt, wenn Firmen wie z.B. Opel verkünden, dass es nach erfolgreichem Abschluss einer Ausbildung keine Übernahme-Garantie mehr gebe. Viele in der Klasse – so mein Eindruck – nahmen die Stoffvermittlung in den Unterrichtsstunden, denen ich beiwohnen durfte, eher locker. Mein Fazit jedoch: Ich hätte Probleme, mit einem solchen, nicht unbedingt spannenden Unterricht klarzukommen und zeigte bereits nach der dritten Stunde leichte Ermüdungserscheinungen.
Wie würden beispielweise der Erste Kreisbeigeordnete Walter Astheimer oder gar der ehemalige Bundesminister Norbert Blüm, beide gelernte Werkzeugmacher, sich heute zurechtfinden in einem Beruf, in dem nicht nur der Name (heute nennt man sich „Werkzeugmechaniker“), sondern auch Ausbildung und Zielsetzung sich grundlegend geändert zu haben scheinen? Welche wichtige Rolle Werkzeugmacher einst im Wirtschaftsleben wohl gespielt haben mögen, lässt sich in dem Buch „Lehrlingsprotokolle“ noch einmal nachlesen, zu dem Günter Wallraff damals das Vorwort schrieb und das 1971 im Suhrkamp Verlag erschienen ist.