Das Geheimnis von Avalon

Von Pierre Dietz.

Wundersam, was der junge Marcel Amidieu in der Heimat seiner Tante Louane zu hören bekommt. Detailreich recherchiert und illustriert, führt uns dieser Roman von der Erschaffung der Menschheit bis zur Suche nach dem heiligen Gral. Nichts stimmt so, wie wir es kennen. Ein Puzzle, bei dem die Vergangenheit zur Realität und die Gegenwart zur Sage wird. Eine Leseprobe:

Sommer 1996: Endlich klares Wetter. Marcel fährt mit Louane an den Strand von »Kerléven«. Den Blick über die Bucht bis nach »Beg Meil« sieht der Junge mit anderen Augen. Armer Gorlois! Von wegen edles Rittertum. Viele Menschen haben aufgrund der Machtgier eines Feldherrn ihr Leben verloren. Marcel betrübt das von aufgewühltem Schlick verfärbte Wasser. Ein paar Möwen gieren nach Essbarem aus dem Picknickkorb. Der Sand füllt sich mit Sonnenhungrigen. Die beiden schwimmen ausgiebig. Wieder bei den Strandtüchern bittet Marcel seine Tante, die Geschichte der Bretagne weiterzuerzählen. Hat Churchill nicht gesagt, die Wahrheit sei zwischen zwei Lügen verborgen?

434 nach Christus: Ein Frühjahrssturm peitscht über den zugebauten Hügel von »Ker Léon« hinweg. Das Meer ist aufgewühlt und rollt mit gewaltigen Brechern auf die Küste zu. Die Möwen fliegen rückwärts. Weiße Schaumkronen türmen sich auf petrolfarbigen Wellen. Ein heiliger Baum stürzt entwurzelt den Hang hinunter und bringt eine Hütte zum Einsturz. Ein Blitz steckt das morsche Holz in Brand. Die Bewohner zittern vor dem entfesselten Zorn der Götter. Im Getöse des Windes verebben die Schreie einer in den Wehen liegenden Frau. Links neben der Eingangstür ist eine Feuerstelle, in der ein eiserner Dreifuß für das Aufsetzen eines Kessels steht. In der hinteren Hälfte des Saales haben die Sklaven ein flaches Bett für die Entbindung vorbereitet, das mit weichen Fellen ausgelegt ist. Entlang der Wand lehnen eroberte Schilde und Waffen. Über der Stirnseite des Bettes hängen an einem Stab Düfte verströmende Kräuter, um die Gebärende zu beruhigen. In einem mannshohen Gestell hängt ein Eimer voll Wasser und einen weiterer, der mit »Chouchen« gefüllt ist. An drei Haken baumeln Kupferkessel in verschiedenen Größen.
Uther sitzt auf einem Dreibeinschemel an einem niedrigen Tisch und vergräbt sein Gesicht in den Händen. Das Feuer erhellt, unterhalb der offenen Zwischendecke, prasselnd den Raum. Der Rauch zieht hinauf bis unter das mit Holz gedeckte Dach. Der Qualm imprägniert die drei Schichten Schindeln, die aus den astfreien unteren sieben Metern von Fichten geschlagen sind. Von dort drückt ihn der Wind durch die Rauchöffnungen ins Freie. Der Dachfirst des Anführers hat den steilsten Winkel aller Häuser im Dorf. Die Lebensdauer eines Daches hängt von der Steigung ab. Je spitzer, desto haltbarer, umso teurer. Die Isolation besteht aus rund um die Außenwände aufgestapeltem Brennholz. Diese natürliche Wärmedämmung weist erhebliche Lücken auf. Ein Zeichen für den endenden Winter.
Eine Druidin bereitet die Wasserweihe vor. Dagonet, der von Gestalt defensiv gebeugte Dorftrottel, fuchtelt mit seinen langen Armen, den knotigen Händen und den dünnen Fingern herum, als ob Geister aus dem Raum zu vertreiben seien. Sein mit Muttermalen übersätes Gesicht ziert eine Knollennase, die alle Gegenstände wie ein Hund beschnüffelt. Seine enormen Füße, mit denen der Spaßvogel über extrem dünne Waden verbunden ist, tänzeln über den Boden und wirbeln einigen Staub auf. Von der Heilerin zurechtgewiesen, tränen seine flattrigen Glotzaugen, von denen eins zimtbraun und das andere amethystfarben ist.
Deprimiert verlässt Dagonet das Haus und rammt mit seinem hohen Kopf versehentlich die Türzarge. Sein Jammern geht im Getöse der Winde unter. Igerne gebärt einen Sohn. Der Säugling gibt den ersten Laut von sich, da öffnet sich die Eingangstür und Merlin betritt durchnässt den Raum. Uther ist nervös und läuft aufgewühlt vor dem Bett auf und ab.
„Da ist eine Sache“, sagt Uther, „die ich dir vorenthalten habe. Merlin nimmt das Kind an sich!“
„Erst raubst du mir den Mann, den ich geschätzt habe und obendrein das Kind! Was liegt mir an dem Bastard? Weiteren Nachwuchs habe ich mir mit Gorlois gewünscht, den ich selbst im Tod noch liebe.“
„Sei nicht so herzlos!“
„Du wirfst mir vor, gefühlskalt zu sein? Je rascher der Schandfleck aus meinem Leben verschwindet, desto eher ist dieses Häuflein Elend aus dem Sinn!“

King Artus und das Geheimnis von Avalon
Roman von Pierre Dietz
Edition AV, ISBN: 978-3-86841-235-2, 512 Seiten, 24,50 Euro
Bisher erschienen: Briefe aus der Deportation, Resistance und Todesmarsch, Das Geisterfestungsfest.

Zur Person: Pierre Dietz, Jahrgang 1963, lebt im Rhein-Main-Gebiet und arbeitet als Animationsdesigner, Künstler und Schriftsteller. Deutsch-französische Wurzeln, historische Themen und ein bewegtes Leben im Medienbereich, als Kurzfilmemacher, Journalist und Fotograf prägen sein Werk.

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