Das große Eisenbahnunglück

Von Peter Erfurth.

Groß-Gerau, den 10. Juli 1911. Ein Eisenbahnunglück nahe bei der Station Dornberg-Groß-Gerau meldete uns am frühen Morgen des Samstag ein amtliches Telegramm des Großh. Eisenbahnbetriebsamtes Worms:

„Am Bahnhof Dornberg-Groß-Gerau überfuhr am 8. d. Mts., 12 Uhr 30 Minuten vormittags, der in Gleis 1 einfahrende Güterzug D 7504 das auf Halt stehende Signal, fuhr in den an dieses Gleis anschließende stumpfe Gleis 11 weiter und überrannte den am Ende dieses Gleises stehenden Prellbock. Die Lokomotive stürzte die zirka vier Meter hohe Böschung hinab. 15 Wagen sind teilweise stark beschädigt. Der Materialschaden ist erheblich. Leicht verletzt wurde das Lokomotivpersonal und der Zugführer. Untersuchung ist eingeleitet.”

Der Güterzug D 7504 war aus Gründen, die die Untersuchung klarstellen wird – vermutet wird, daß der junge Lokomotivführer dem Haltesignal nicht die nötige Aufmerksamkeit schenkte, weshalb ihm noch vom Stellwerkswärter zu bremsen zugerufen wurde – über das für Gleis 1 geltende Haltesignal hinausgefahren und dadurch in ein totes Gleis geraten, das kurz vor der Stelle endigt, wo der Landgraben unter der Eisenbahnlinie herzieht. Die Maschine rannte den am Ende des toten Gleises befindlichen Prellbock um und stürzte die etwa 4 Meter hohe Böschung hinunter, wobei sie in den Landgraben geriet und förmlich eine Brücke über diesen bildete. Ein Teil der Wagen türmte sich aufeinander, andere stürzten die Böschung hinunter oder blieben zertrümmert auf derselben liegen — ein schauerliches Bild der Zerstörung. 15 Wagen des etwa 60 Wagen langen Zuges sind beschädigt. Das Zugpersonal rettete sich durch Abspringen vom Zuge, so der Lokomotivführer, der sichtbare Verletzungen nicht davongetragen hatte und — wohl infolge der Gemütsbewegung nur über Schmerzen in Brust und Leib klagte, sich aber später nach seinem Stationsort Mannheim begeben konnte, und der Heizer, der infolge Anschlagens an die Mauer des Landgrabens nur eine kleine Schramme über dem Auge davontrug und sich durch den Durchlaß des Landgrabens auf die andere Seite des Dammes rettete. Durch das Herabstürzen der Wagen wurde auch eine Telegraphenstange umgerissen, so daß der telegraphische Verkehr zwischen der Station Dornberg und Dornheim unterbrochen war. Auch das erste Gleis war infolge der darauf liegenden Trümmer bis etwa l2 Uhr mittags gesperrt, trotzdem die Mannschaften der Bahnmeisterei Dornberg und Mörfelden und die mit Hilfszug von Bischofsheim herbeigeeilten Eisenbahnwerkstättenarbeiter anstrengend und fleißig arbeiteten.

Groß-Gerau, den 31. Juli 1911: Vom Dornberger Eisenbahnunglück

Mittwoch Nachmittag 5.20 Uhr gelang es nach 10tägiger mühevoller Arbeit, die bei dem Eisenbahnunglück am 8. Juli in den Landgraben geratene Lokomotive glücklich auf ein Nebengeleise des Bahnhofs zu bringen. Die Leitung der Arbeiter war Regierungsbaumeister Brandes übertragen. Werkführer Müller vollzog mit 15 Arbeitern aus der Zentralwerkstätte in Darmstadt die Hebung der Maschine mittelst 4 Hebzeugen, die an Stahlbändern und Ketten die Last emporzogen. Vor der Maschine war ein 50 – 75 Meter langer Laufgraben hergerichtet worden, in den ein Schienengleis gelegt wurde. Mittels zweier großen Lokomotiven, die mit einer starken Kette an der emporgehobenen Maschine verbunden war, gelang es glücklich, die Lokomotive in den Bahnhof zu bringen. Sie ist nicht unwesentlich beschädigt.

Darmstadt, den 13. Dezember 1911: Gerichtszeitung

Das Dornberger Eisenbahnunglück v. d. Strafkammer. Der Lokomotivführer Johan Baptist Heiser aus Mannheim ist vor der heutigen Strafkammer der fahrlässigen Gefährdung eines Eisenbahntransportes angeklagt. Der Verhandlung liegt folgender Tatbestand zu Grund: Samstag, den 8.Juli, um 1 Uhr früh ereignete sich bei der Station Dornberg-Groß-Gerau ein sehr schwerer Eisenbahnunfall. Ein von Frankfurt kommender 136 Achsen langer Güterzug, der in dieser Station vom Berlin-Baseler Güterzug überholt werden sollte, hatte den auf einem toten Gleise befindlichen Prellbock überfahren und war dann die 5 Meter hohe Böschung hinabgestürzt. Der Führer und der Heizer konnten noch rechtzeitig abspringen. Der Zugführer blieb im Packwagen, der glücklicherweise über zwei andere Wagen geschoben wurde und unversehrt blieb. Abgesehen von einigen leichten Verletzungen trugen die Beamten weiter keinen Schaden davon. Der Schnellzug, der eine Minute später eintraf, konnte noch rechtzeitig zum Halten gebracht werden. Der entstandene Materialschaden betrug 30-35000 Mark. Der Güterzug durchfuhr regelmäßig die Station auf Gleis 2. An diesem Tag hatte aber der Schnellzug Berlin-Basel Verspätung und deswegen sollte der Güterzug auf Gleis 1 warten und überholt werden. Der Angeklagte macht geltend, daß er ein diese Fahrordnungsänderung anzeigendes Signal übersehen habe, da dieses durch dazwischen stehende Wagen verdeckt war. Er war der Meinung, daß er die Station wie immer ungehindert durchfahren könne. Der Heizer, der mit der Maschine fuhr, bezeugt, daß er ebenfalls nur das Signal, das auf „Freie Fahrt” stand, beachtet hätte. Ein anderes hätte er nicht gesehen, da er sich dann mit seiner Arbeit beschäftigt hatte. Er stellt dem Lokführer, mit dem er schon längere Zeit fährt, das beste Zeugnis eines nüchternen und zuverlässigen Mannes aus. Der Zugführer hatte zwar das Haltesignal gesehen, sich aber nichts dabei gedacht, weil der Zug die Station immer durchfährt. Es erfolgte eine umfangreiche Zeugenvernehmung. Drei Sachverständige, darunter Direktor Schilling sind geladen. Ein Zeuge, der einer Signalschau beiwohnte, bekundet, daß in der Station Dornberg verschiedene Signale beanstandet wurden. Aus den Zeugenaussagen und aus den Ausführungen geht hervor, daß eine Verwechslung leicht möglich war. Der Staatsanwalt gibt mildernde Umstände zu und beantragt schließlich eine Geldstrafe von 150 Mark. Das Gericht erkannte auf 100 Mk. Geldstrafe.

Quelle: Kreisblätter und Fotografien aus dem Stadtarchiv Groß-Gerau

 


Peter Erfurth
ist Datenbank-Spezialist des Groß-Gerauer Stadtmuseums;
pedepe@gmx.de

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