Das Toleranzprinzip
Von Ulf Krone.
Mit „WIR philosophieren“ starten wir eine neue Kolumne aus der Feder unseres Redakteurs Ulf Krone. Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff Philosophie bedeutet übersetzt „Liebe zur Weisheit“. Die Philosophie ist die Schule des Denkens, und gemeinsam mit der Mathematik umfasst sie alle anderen Wissenschaften und Disziplinen. In unserer neuen Reihe werden wir uns in die Philosophiegeschichte begeben und mithilfe der großen abendländischen Denker aktuelle Themen philosophisch beleuchten.
Anlässlich des Festakts zu 500 Jahren Reformation sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einigen Wochen davon, Toleranz sei die Seele Europas und das Grundprinzip jeder offenen Gesellschaft. Wirft man einen Blick auf die in Europa herrschende Vielfalt, ist man geneigt, ihr Recht zu geben. Doch denkt man eingehender über ihre Worte nach, kommen berechtigte Zweifel. Denn Toleranz als die Seele Europas zu bezeichnen, impliziert, dass es sich dabei um einen von Anfang an vorhandenen, unveräußerlichen Wert handelt. Im Bewusstsein des europaweiten Erstarkens populistischer Intoleranz wird allerdings klar, dass Toleranz ein hart erarbeitetes Gut ist, um das fortwährend gekämpft werden muss.
Der Begriff Toleranz leitet sich vom lateinischen tolerare (erdulden, ertragen) ab, und im Römischen Reich wurde sie auch zum ersten Mal auf europäischem Boden als gesamtgesellschaftliches Prinzip eingeführt. Im Jahr 311 war es das so genannte „Toleranzedikt“ von Kaiser Galerius, das die Christenverfolgung im römischen Reich faktisch beendete und die Duldung des christlichen Glaubens und seiner Anhänger vorschrieb. Die waren dann allerdings dafür verantwortlich, dass das Toleranzprinzip – nach dieser kurzen Blüte – im Mittelalter wieder aus Europa verschwand. Kreuzzüge, Antisemitismus und die Verfolgung vermeintlicher „Hexen“ sind Zeugnisse einer vehementen Intoleranz sowie der Angst vor dem Fremden, Anderen. Da die Trennung von Kirche und Staat noch in weiter Ferne lag, wurde die Religion in den Monarchien des ausgehenden Mittelalters zum Politikum. Kirche und Adel spielten das Spiel mit den Staatsreligionen, und die Untertanen mussten glauben, was von oben vorgegeben wurde. Martin Luthers Ausgangspunkt war zwar die Demokratisierung der Religion, aber die Teilung der Kirche durch die Reformation machte aus zwei Parteien drei, die nur umso erbitterter um die Macht kämpften, etwa in den Religionskriegen („Hugenottenkriege“) im Frankreich des 16. Jahrhunderts.
Thomas Morus (Abb. oben: Portrait von Hans Holbein der Jüngere, 1527) beschrieb in seinem 1516 erschienen Werk „Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia“ die Bewohner der glückseligen Insel Utopia, die trotz verschiedener Konfessionen friedlich miteinander leben. Doch es sollte noch bis ins 17. Jahrhundert dauern, bevor englische und französische Philosophen dem Toleranzprinzip tatsächlich zum Siegeszug verhelfen konnten. Der englische Philosoph John Locke fasste in seinen drei „Briefen über die Toleranz“ in den 1680er Jahren die Gedanken der Toleranzbewegung in der Theorie der „freien Kirche im freien Staat“ zusammen und forderte, dass der moderne, aller kirchlichen Bevormundung enthobene Staat, jede religiöse Überzeugung als persönliche Meinung und jede religiöse Gemeinschaft zu dulden und zu schützen habe, sofern sie nicht die staatliche Ordnung bedrohen.
Diese Idee verbreitete sich in Europa und wurde schließlich Teil der demokratischen Verfassungen der europäischen Staaten – so auch der deutschen. Und sie wurde ausgeweitet auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Doch im Toleranzprinzip liegt ein Zwiespalt verborgen, auf den der deutsche Philosoph Ludwig Feuerbach im 19. Jahrhundert hinwies und der bis heute aktuell ist: „Der Glaube, der erlaubt, anderes zu glauben, verzichtet auf seinen göttlichen Ursprung und Rang, degradiert sich selbst zu einer nur subjektiven Meinung. Nicht dem christlichen Glauben, […] nein! dem Zweifel an dem christlichen Glauben, dem Sieg der religiösen Skepsis, den Freigeistern, den Häretikern verdanken wir die Toleranz der Glaubensfreiheit.“
Dementsprechend meint Toleranz die Arbeit, da, wo es nicht um harte, nachprüfbare Fakten geht, zu akzeptieren, dass Glaube oder Meinungen lediglich subjektive Annahmen sind und man selbst die der anderen genauso ertragen muss wie diese die eigenen. Toleranz ist Arbeit, und je stärker ein Glaube oder eine Überzeugung ist, desto härter ist diese Arbeit. Eines aber sollte die Geschichte uns lehren: Intoleranz ist keine Lösung und macht am Ende niemanden glücklich!
Ulf Krone
ist Redakteur beim WIR-Magazin und studierter Philosoph;
ulf.krone@wir-in-gg.de