Die Zukunft des Chorgesangs

Von W. Christian Schmitt.

Mit der Reihe „Tischgespräche“ gibt das WIR-Magazin seinen Lesern ­Gelegenheit, unmittelbar am jeweiligen Geschehen mit dabei zu sein,
den Menschen hinter seinem Amt kennenzulernen. Diesmal hat uns Berthold Knell, Vorstandsmitglied der Chorgemeinschaft Dornheim, eingeladen, die 2019 ihr 175jähriges Bestehen feiern kann.

Wer kennt sie nicht, die Volkslieder wie etwa „Sah ein Knab ein Röslein stehn…“ (das auf einem Goethe-Gedicht basiert) oder „Wo man singet, laß dich ruhig nieder … böse Menschen haben keine Lieder …“ (das uns Johann Gottfried Seume hinterlassen hat) oder gar die Geschichte des „Ännchen von Tharau“, das auf einer offenbar wahren Geschichte aus dem 17. Jahrhundert beruht. Es gibt ein „Volksliederarchiv“ (einsehbar im Internet), in dem rund 10.000 Lieder aufbewahrt sind. Ein Liederschatz, aus dem sich jeder Chor in diesem Lande bedienen kann. Auch die Chorgemeinschaft Dornheim, über deren Entwicklung, Ist-Zustand, Freuden, Sorgen und Nöte uns Berthold Knell bei Kaffee und Kuchen einiges zu erzählen hatte.

Was ist dran an dem, was unlängst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Tradition in Gefahr: Männerchöre ohne Nachwuchs“ oder gar noch etwas dramatischer von der Lokalzeitung mit der Meldung „Männerchöre verstummen“ verbreitet wurde, sage ich zu dem passionierten Sänger Knell. Und der erzählt: „Ja, die Veränderung unserer Gesellschaft spürt man auch beim Chorgesang, der jedoch nach wie vor eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt der Gemeinschaft spielt“.

Auch die Chöre, von denen es im Kreis Groß-Gerau 67 gibt, organisiert in 38 Vereinen, hätten sich den geänderten Rahmenbedingungen, sprich Freizeit-Entwicklungen anzupassen. Einiges habe man zwar schon erprobt. Aber es reiche allein nicht aus, wenn man aus einem Männerchor einen gemischten Chor mache und für die jungen Menschen einen Jugendchor einrichte. Auch das, was man als Liedgut anbiete, verändere sich. Klassische Lieder seien „nicht mehr so gefragt“, wer Leute für den Chorgesang gewinnen will, müsse Zeitgemäßes, auch z.B. Lieder von ABBA u.a. im Repertoire haben. Letztlich bestimme jedoch der Dirigent oder die Dirigentin den aktuellen Kanon.

„Was sind denn Ihre Lieblingslieder“, frage ich, und Knell nennt Titel wie „Im Weinparadies“ oder „Ungarischer Tanz Nr. 6“. Da muss ich passen. Nun, da wir mittendrin im Gespräch sind, scheint allerdings die Frage nicht unangebracht: „Können Sie als Chorsänger eigentlich Noten lesen? Ist das ein Muss, wenn man Aufnahme finden will im Kreis Gleichgesinnter?“ „Nee“, sagt Knell ganz offen, „muss man nicht“. Wichtiger sei, dass man den Text auswendig könne und nicht unbedingt das Notenblatt vor der Nase habe. Knell ist in der Abteilung „Tenöre“ anzusiedeln. Einmal dienstags die Woche verabschiedet er sich von seiner Frau mit den Worten: „Ich muss zur Chorprobe“. Die dauert zwar in der Regel kaum länger als zweimal 90 Minuten, aber das gemütliche Beisammensein, bei dem man sich anschließend noch „ein Bierchen gönnt“, verlängert den Ausgang.

Früher sei man „beim Theo“ bisweilen gar bis zwei Uhr früh geblieben, um ein paar Stunden später dann gleich zur Frühschicht zu Opel zu fahren. Aber auch da haben sich die Zeiten geändert. Für jüngere Menschen habe heute der Beruf und das Fort- wie Auskommen absolute Priorität. Und wenn sie denn in einen Chor eintreten, dann wollen sie „nicht die alten Lieder singen“ und stolz sein auf Vereinstraditionen. Sie wollen in der begrenzten Zeit, die sie haben, „einfach nur Spaß haben“. Vor diesem Hintergrund wird es auch für die Chorgemeinschaft Dornheim zusehends schwerer, neue Mitglieder zu gewinnen. Ja, sagt Bertold Knell, vor ein paar Jahren meinte man noch, es reiche aus, „von Haus zu Haus zu gehen und für den Chorgesang zu werben“. Aber das habe wenig gebracht.

Im kommenden Jahr wird man mit einer Reihe von Veranstaltungen (über die wir unsere WIR-Magazin-Leser noch gesondert informieren) an die Öffentlichkeit treten. Eine Festschrift, wie noch 1994 zur 150-Jahrfeier, wird es diesmal jedoch nicht geben. Wer in dem Jubiläumsbuch von früher blättert, findet dort nicht nur fast 30 „Grußworte“ vom Landrat über Hessische Minister, Präsidenten, Bürgermeister, Stadträte und Honoratioren aus nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Dieses Kompendium zeigte auch, welchen Stellenwert der Chorgesang und damit die Arbeit der Dornheimer Chorgemeinschaft vor 25 Jahren noch hatte. Aber verzagen ist nicht Knells Sache. Er glaubt an eine Zukunft des Chorgesangs in Dornheim und freut sich „auf ein schönes Fest“. Ob es ein solches auch zum 200. Bestehen des Vereins noch geben wird? Kein Mensch weiß dies. Knell: „Nur eines ist sicher, ich werde dann nicht mehr mit dabei sein.“

 

Zur Person: Berthold Knell ist 1948 in Dornheim geboren, ­besuchte von 1956 bis 1963 die Volksschule in Dornheim und absolvierte bei der Fa. Opel in Rüsselsheim eine Lehre. 1974 bis 1978 dann Studium zum Maschinenbautechniker in Abendschule. Bei der Fa. Opel bis zu seinem Ausscheiden 2008, von da ab „offiziell Rentner“. Knell ist verheiratet, hat zwei Kinder und drei Enkelkinder. Als Hobby nennt er die Chorgemeinschaft 1844, der er seit 1963 unverändert aktiv die Treue hält. Auszeichnungen: 1993 Ehrenbrief des Landes Hessen, 2007 Goldene Ehrennadel der Stadt Groß-Gerau, 2016 Silberne Ehrenplakette der Stadt Groß-Gerau. Knell über sich: „Ich bastele und arbeite gern mit Holz, was ich letztendlich im Verein einbringen kann. Alle anfallenden Arbeiten in Haus und Garten werden so weit als machbar von mir erledigt.“

Das könnte Dich auch interessieren …