Ein Autounfall in Groß-Gerau

Von Peter Erfurth.

Unterlagen und Kreisblätter aus dem Archiv des Stadtmuseums. Aus dem Kreisblatt von 1934 (leicht gekürzt):

Nicht etwa gestern oder heute Vormittag passierte er, nein, es war schon, wie der Leser auch aus dem Bilde erraten kann, um die Jahrhundertwende herum. Also nicht im Zeitalter der Aktentasche, des Rucksackes und der Thermoskanne, sondern damals, als noch die alten braven „Oelemüller“ mit dem rot- oder blaukarierten Brotsack unter dem Arm und dem Kaffeekännchen in der Hand die Niedergasse belebten und es in „Gere“ noch mehr nach „Kobra“ als nach Benzin duftete.

Wenn der Unfall, von dem ich erzählen will, auch unblutiger verlief wie die vielen, die man heute jeden Tag in der Zeitung liest, so verdient er schon deshalb der Nachwelt überliefert, weil er der erste in Gere war.

Kleinböhl und Benz

Unser Altmeister Jean Kleinböhl leistete schon ab 1895 mit seinem Benz-Wagen, in enger Gemeinschaft mit dem damaligen stud. ing. Benz jr. gewaltige Pionierarbeit auf dem Gebiete des Verkehrswesen. Er hat den Frankfurtern und den Darmstädtern den ersten selbstfahrenden Wagen vorgeführt. Zu diesem gesellte sich noch der kleine Wagen des seeligen Fr. Rheinheimer sen., seines Zeichens Uhrendoktor, der auch früh erkannt hatte, daß das neues Fortbewegungsmittel für ihn das Richtige war.

Frühjahr war es. – An einem Sonntag mittag. Groß-Gerau freute sich der ersten warmen Sonnenstrahlen, die ebenso Spinnen und Mücken aus den Mauerritzen lockten, wie sie auch den Gerauern zu ihren ersten ausgedehnten Sonntagsausflügen Veranlassung gaben. Die Jugend aus den einzelnen Stadtteilen erschien an solch schönen Sonntagen auf ihren Sammelplätzen, um zur großen Frühjahrsoffensive gegen die Nauheimer nach dem Niederwaldeck abzurücken. Mit einem Freund und Speci war ich schon auf Position an der „Alten Post“, als „Sie“ auf einmal von der Niedergasse her zu hören war. Gesehen hat man ja immer erst die Leute, die an die Haustore rannten und die Fenster aufrissen. Keine Macht der Welt hielt die Magd auf dem Melkstuhl, wenn die Jugend auf der Straße rief:

„Sie kimmt! Sie kimmt!“ Daß auch oft andere wichtige Sitzungen unterbrochen wurden, das sah man dann und wann an den knöpfenden Bewegungen derer, die an die Tore geeilt waren. Ein klein wenig mußte man sich doch schon beeilen, wenn man „Sie“ von vorne sehen wollte. Obgleich „Sie“ keine keine 80 Stdenkm. fuhr, so kam „Sie“ schließlich doch schneller um die Ecke, die Benzin-Chaise, als unser alter Gänsehirte und der Kuhhirte, die beide noch allmorgendlich nach der Gänsetränke und Kuhweide an der Wallerstädter Chaussee zogen und mit ihren Kuhhörnern die langhalsigen Schönen und die buntscheckigen Milchfabrikanten hinter den Hoftoren hervorlockten. Diese Locktöne waren denen nicht unähnlich, die der fliegende Wagen von sich gab.

Auch heute ratterte und schnaufte „Er“ auf seinen großen Speichenrädern mit Vollgummireifen die Niedergasse entlang, in der Richtung nach dem goldenen Meenz, vollbesetzt mit 2 Damen und 2 Herren. Der Herrenfahrer hatte scheinbar das Bedürfnis, seine Hände vor dem Straßenstaub zu schützen. Er begann, als sie über die Alte Postbrücke fuhren, seine Handschuhe klar zu machen. Sein neben ihm sitzender jüngerer Bruder ergriff in Vertretung das Ruder, und mit einer Sicherheit, die jedem alten Rudergänger aus einem Linienschiff zur Ehre gereicht hätte, steuerte er die Chaisse mit ihrem kostbaren Besatz hart Backbord Kurs Schindkaut auf dem kürzesten Wege in den Straßengraben.

Der Erfolg war verblüffend. Das Gestell gab keinen Ton mehr von sich und war oben – leer. Die jetzt zu höhrende Musik war anderen Ursprungs. Sie kam aus dem neben dem Graben herziehenden Acker. Die beiden Herren, die mit den rückwärtsgetrudelten Damen gleichfalls die hohe Warte geräumt hatten, halfen letzteren auf die unversehrten Beine, und dann unterhielten sie sich erstmal eine Zeitlang recht brüderlich zusammen. Ich kann unmöglich die einzelnen Worte behalten haben, aber ich weiß, daß man ähnlich herzliche Ausdrücke auch heute noch vernehmen kann, wenn man zufällig mal Gelegenheit hat zu hören, wie sich ein Gerer Stammfuhrmann mit einem Ferntransportführer eingehend über Ausweichen, Ueberholen und die Breite des Fahrdammes bespricht.

Die Damen mochten unterdessen bemerkt haben, daß der Vorstoß auf Meenz für heute abgeblasen war. Sie flohen die Stätte der brutalen Gewalt. Die Brüder hatten nun auch die Nutzlosigkeit ihrer Unterhaltung eingesehen, Meenz für heute verschmerzt und mit Unterstützung der hilfsbereiten „Alten Post“ festgestellt, daß nur die beiden Vorderfüße der Benzintante gebrochen waren. „Bei der unmittelbaren Nähe der Alten Post wäre der Schaden nicht der Schlimmste“, meinte der Onkel Jakob. „Wozu haben wir denn die Dreschwagenräder drin stehen“? Bald waren 2 stabile gegen die verkrumpelten Vettern ausgetauscht, und die Motorschaukel wurde dann von ihrem rechtmäßigen Führer im 3-Std.-km-Tempo in die Garage „Zur Alten Post“ buchsiert.

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