Ein Ort der Erinnerung
Foto: Arbeiten am Mattes-Turm
Udo Stein zur neu gestalteten Eingangshalle der Oberstufe der Prälat-Diehl-Schule
Von der Werkhalle zur Aula. Ein Industriegelände wird Schulstandort. So lautete der Arbeitstitel für eine Ausstellung im Stadtmuseum Groß-Gerau.
Der Anlass: Das bisherige, in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts errichtete Oberstufengebäude der Prälat-Diehl-Schule am Wasserturm wurde vom Schulträger, dem Kreis Groß-Gerau, schon zu Beginn des letzten Jahrzehnts als dringend sanierungsbedürftig angesehen. Berechnungen ergaben, dass die Sanierung teurer als ein Neubau werden würde. Nach langem Suchen fand man das passende Grundstück für den Neubau, und zwar in Innenstadtnähe auf dem Gelände der Fagro bzw. des Faulstroh Press-und Stanzwerks, also auf Grund und Boden, der mit der Geschichte der Stadt Groß-Gerau in vielfältiger Weise verknüpft ist und an dem Erinnerungen vieler Bürger hängen. Vor Baubeginn mussten die verfallenden Gebäude und und der Boden saniert werden. Im September 2014 konnte das neue Schulgebäude bezogen werden. Ziel der Ausstellung sollte es sein, sich der Geschichte des neuen Standortes der Schule zu versichern und exemplarisch den städtischen Wandel zu dokumentieren. Macher der Ausstellung waren Schülerinnen und Schüler eines Leistungskurses Geschichte an der Prälat-Diehl-Schule unter meiner Leitung in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum und seinem Leiter Jürgen Volkmann.
Die Arbeit an den Quellen brachte schnell zutage, dass auf einem Teil des Baugeländes 1923 eine Gardinenfabrik errichtet worden war. Gründer und Eigentümer war das jüdische Unternehmerehepaar Alfred und Paula Mattes. Es bestand aus einer Fabrikantenvilla und einem mehrstöckigen Fabrikgebäude mit einem Aufzugsturm, an dem eine weithin sichtbare elektrische Fabrikuhr angebracht war. Das Unternehmen gerät in der Weltwirtschaftskrise in Insolvenz und musste geschlossen werden. In der Folge übernahm das in unmittelbarer Nachbarschaft liegende Jakob Faulstroh Press-und Stanzwerk das Gebäudeensemble. Die ehemaligen Besitzer zogen aus Groß-Gerau weg und wurden dennoch ab 1933 von einheimischen Nationalsozialisten verfolgt. Sie konnten 1940 gerade noch in die USA emigrieren. In Groß-Gerau gerieten die Gardinenfabrik und ihre Eigentümer in Vergessenheit.
Das Jakob Faulstroh Press- und Stanzwerk war aus einem Handwerksbetrieb hervorgegangen. Vor und während des Zweiten Weltkrieges nahm das Unternehmen auch durch Rüstungsproduktion einen beachtlichen Aufschwung und konnte während des Wirtschaftswunders unter anderem als Zulieferer für die Automobilindustrie zum mit Abstand größten Arbeitgeber in Groß-Gerau wachsen. Das Gelände an der Sudetenstraße war schon in den dreißiger Jahren zu klein geworden, und deshalb erweiterte man nördlich der Bahnlinie. Wer bei Faulstroh arbeitete, war stolz darauf, und die beiden Unternehmensführer Otto und Albert Faulstroh legten größten Wert darauf, ihren Betrieb auch nach innen als Familienunternehmen zu führen. Es gelang allerdings nicht, den industriellen Wandel, der in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts einsetzte, erfolgreich zu bewältigen. 2004 wurden die Werkstore für immer geschlossen. Es blieben leere Fabrikhallen, die langsam verfielen. Besonders für den Gebäudekomplex an der Sudetenstraße schien es keine Zukunft zu geben.
Erst die Idee, hier das neue Oberstufengebäude der Prälat-Diehl-Schule zu errichten, brachte die Wende. Abriss ab November 2010, dann Bodensanierung und schließlich Neubau bis Sommer 2014 – es würde also nichts übrig bleiben von diesem Teil der Groß-Gerauer Geschichte. Hier sollte die seit 2012 geplante Ausstellung „Von der Werkhalle zur Aula. Ein Industriegelände wird Schulstandort im Stadtmuseum Groß-Gerau.“ einen kleinen Kontrapunkt setzen. Als großer Glücksfall für die Ausstellung und für das neu errichtete Schulgebäude erwies sich, dass die große Fabrikuhr vor der Zerstörung durch den Abriss gerettet werden konnte. Sie wurde restauriert, zunächst in der Ausstellung gezeigt und schließlich in der Eingangshalle der Prälat-Diehl-Schule angebracht. Dadurch erhielt das neue Schulgebäude eine zusätzliche Dimension: Die Fabrikuhr verknüpfte Vergangenheit und Gegenwart. In der Ausstellung im Stadtmuseum wurde der historische Kontext gezeigt und erläutert. Aber wie war das in der Schule selbst? Wenn man diese Frage stellte, lag die Antwort auf der Hand. Durch Bild und Text sollte erklärt werden, woher die Uhr kam. Da sich durch Neu-, Um- und Anbauten die Struktur des Grundstücks häufig verändert hatte, war das Problem, welcher Ausbaustand zur Grundlage der bildlichen Darstellung gemacht werden sollte. Die Entscheidung fiel für eine abstrahierende Darstellung auf einem Geschäftsbrief, die die Situation der Zwanzigerjahre festhält und damit auch deutlich auf die Bauherren verweist: Alfred und Paula Mattes. Das Jakob Faulstroh Press- und Stanzwerk wird durch Fotografien vom Innern einer Fabrikhalle auf dem heutigen Schulgelände repräsentiert. Das Schulgebäude der Prälat-Diehl-Schule wird also so zum Erinnerungsort Groß-Gerauer Geschichte.
Schließlich ist die Prälat-Diehl-Schule selbst Bestandteil einer öffentlichen Erinnerungskultur. In ihrem Namen wird des Prälaten Wilhelm Diehl gedacht. Wilhelm Diehl hat es aus eher einfachen Verhältnissen stammend in die Führungselite der Weimarer Republik geschafft. Die evangelische Kirche in Hessen hatte dem Inhaber ihres Leitungsamtes den Namen Prälat gegeben. Die Stellung des Prälaten war also der eines Bischofs vergleichbar. Als 1951 die Prälat-Diehl-Schule ihren Namen bekam, wurde dies damit begründet, dass Wilhelm Diehl nicht nur der große Sohn Groß-Geraus war, sondern auch die Vorläuferschule der heutigen Prälat-Diehl-Schule besucht hatte. Die in der Eingangshalle angebrachte Bronzetafel des Prälaten Diehl ließ der Kreis 1968 von dem Darmstädter Bildhauer Fritz Schwarzbeck anfertigen. Noch 1968 war die Erinnerung an den Prälaten Diehl in Groß-Gerau lebendig. Anekdoten über ihn kursierten und zeichneten die außergewöhnliche Persönlichkeit Diehls. Das ist heute weitgehend verloren gegangen, sodass man sich die Erinnerungen an den Prälaten Diehl erarbeiten muss. Die Gestaltung der Eingangshalle der Prälat-Diehl-Schule als Erinnerungsarbeit verdankt sich der Kooperation zwischen dem Schulträger, dem Kreis Groß-Gerau, der Stadt, der Schule, ihrem Förderverein und nicht zuletzt dem ausführenden Grafiker Michael Schleidt.
Udo Stein ist Lehrer an der Prälat-Diehl-Schule Groß-Gerau; u.stein@onlinehome.de