Eine Groß-Gerauer Institution

Von Ulf Krone.

Ich bin auf dem Weg zum Kiosk „Zum Stadtbrunnen“ am Marktplatz, denn ich habe einen Termin mit Senior-Chefin Marlene Merkelbach. An ihrem Geburtstag am 15. November feiert nämlich auch der Kiosk Geburtstag – den inzwischen 70., was das Unternehmen zu einem der ältesten noch bestehenden in Groß-Gerau macht. Mit dem dazugehörigen Bistro/Café ist der Kiosk längst zu einer kreisstädtischen Institution geworden – und das trotz vieler Widerstände und Schwierigkeiten.

Marlene Merkelbach, gelernte Zahnarzthelferin und Krankenschwester, ist eine energische Frau, der man anmerkt, dass sie für ihr Geschäft kämpfen musste und stolz darauf ist, gemeinsam mit der Familie allen Widrigkeiten über die Jahrzehnte getrotzt zu haben. Und das begann bereits mit ihren Eltern, wie sie zu berichten weiß. Denn als die im Januar 1948 den Antrag auf den Bau eines Verkaufs­kiosks am Markt stellten, gab es noch weitere Bewerber, die sich Hoffnung auf den lukrativen Standort machten. Bis Ende April musste die Familie warten, bevor die erlösende Nachricht kam: Dem Antrag Michael Merkelbachs war mit 14:3 Stimmen stattgegeben worden. Offiziell eröffnet wurde der Kiosk noch im selben Jahr am 15. November, die Arbeiten am Gebäude waren aber erst 1949 abgeschlossen. In der Folge wurde der Kiosk zur Gastwirtschaft und bekam den Namen „Zum Stadtbrunnen“, bevor schon Anfang der 50er Jahre ein festes Gebäude errichtet wurde. Der ursprüngliche Holzkiosk wurde 1952 nach Flörsheim verkauft, „wo er noch zehn Jahre gute Dienste leistete“, wie Marlene Merkelbach hinzufügt.

Sie erinnere sich noch gut, wie ihr Vater bereits frühmorgens im Kiosk stand, wenn Busse die Arbeiter zur Schicht ins Opel-Werk nach Rüsselsheim brachten. Und auch die Einführung neumodischer Genüsse in der Kreisstadt sind ihr im Gedächtnis geblieben: „Wir hatten eine eigene Eismaschine, haben das erste Eis in Groß-Gerau verkauft und sogar das Café Menne beliefert. Bei uns haben sich die Kinder im Sommer ihr Eis geholt. Aber wir hatten auch die erste Coca-Cola der Stadt sowie Union-Bier im Angebot.“ Seit 1958 ist der Kiosk außerdem offizielle Lotto-Annahmestelle. Daneben führte Mutter Margarete Merkelbach bis 1955 zusätzlich noch das Café Schöll.

Die Mitarbeit im Familienbetrieb war für alle Generationen von Anfang an selbstverständlich, so auch für Marlene Merkelbach oder ihren Bruder Dieter, der heute Arzt am Bodensee ist. Auf diese Weise habe es sich ganz natürlich ergeben, dass Marlene Merkelbach-Veit, wie sie eigentlich heißt, und ihr Mann Hans Veit 1968 den Betrieb weiterführten, als sich die Eltern aus dem Geschäft zurückzogen.
Mir wird allmählich klar, dass es sich beim Kiosk „Zum Stadtbrunnen“ um eine Art Fels handelt, der im Strom der Zeit unverrückbar an seinem Ort steht und einerseits so vielen Menschen als Ankerpunkt diente und dient, andererseits gleichzeitig Zeuge aller Veränderungen in der Kreisstadt seit dem Ende des 2. Weltkriegs geworden ist. Er prägt das Leben der Familie Merkelbach-Veit seit Generationen wie auch das der vielen Menschen, die sich dort ihr Eis, ihre Zeitung, ihre Zigaretten holen, die Lotto spielen, zu Mittag essen oder ein kühles Bier genießen, die sich dort einander begegnen, ein Schwätzchen halten, gemeinsam lachen.

Oder die einen Weihnachtsbaum kaufen wollen. Denn auch das ist seit den 60er Jahren und noch bis 2016 am Kiosk in der Vorweihnachtszeit möglich gewesen. Und damit nicht genug. Während Hans Veit von 1972 bis 1977 zusätzlich einen zweiten Kiosk an den Beruflichen Schulen führte, betrieb Marlene Merkelbach von 1993 bis 2015 eine weitere Lottoannahmestelle am Sandböhl.
Ein entscheidendes Jahr für den traditionsreichen Kiosk war schließlich 2005. Da sollte das Gebäude plötzlich weichen, denn der Umbau des Marktplatzes war auf die politische Agenda gerückt. „Dabei war der alte Kiosk so schön“, ärgert sich Marlene Merkelbach noch heute. „Das war ein schönes rundes Gebäude, wovon es mit dem Wasserturm nur noch ein weiteres in Groß-Gerau gibt, mit 160m² Fläche. Die Stadt hat uns ein neues Grundstück gegeben – mit 80m² Fläche, aber die Pacht doppelt so hoch.“

„Nun ist der Platz im Gebäude zu klein für eine ordentliche Küche, größere Speisen können wir nicht mehr zubereiten“, ergänzt Tochter Simone Veit-Paap, die den Familienbetrieb 2005 gemeinsam mit ihrer Schwester Eileen Veit-Jurdzik übernommen hat. Eigentlich ist Simone Veit-Paap Arzthelferin, Eileen Veit-Jurdzik ist Erzieherin, aber beide verbinden so viele Erinnerungen mit dem Kiosk, dass sie ihre Berufe aufgaben und sich der Arbeit im Familienunternehmen widmeten. Dazu gehörte auch, dass man 2006 den Wintergarten auf eigene Kosten anbauen ließ, um wieder ausreichend Sitzplätze für die Gäste zur Verfügung zu haben. Seit 2014 arbeitet Eileen Veit-Jurdzik wieder in ihrem Beruf als Erzieherin, dem Kiosk bleiben beide Schwestern dennoch treu.

Nun freut sich die Familie gemeinsam auf die Feier zum 70. Geburtstag des Unternehmens, die am 17. November sein wird. Zu diesem Anlass soll ein zusätzliches Zelt errichtet werden. „Wir warten derzeit auf die Genehmigung der Stadt“, sagt Marlene Merkelbach vieldeutig und verdreht die Augen. Auch das eine Geschichte, die nun schon 70 Jahre währt. Als ich mich von Marlene Merkelbach und ihren Töchtern verabschiede und den Kiosk verlasse, bin ich mir sicher, dass sie einen Weg finden, was immer kommen mag. Denn allen Widrigkeiten zum Trotz ein Unternehmen 70 Jahre lang über drei Generationen hinweg zu führen, ist kein Zufall.

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