Frieden sei ihr erst Geläute

Von Volker Lilje.

Beim Abriss des alten Groß-Gerauer Gemeindehauses, das nach dem Krieg als Notkirche diente, wurde eine kleine Glocke aus dem Dachreiter ge­borgen. Auf deren spannende und bewegende Geschichte stieß 2019 der Archivar der Stadtkirchengemeinde, Harald Hock. Bald entstand Im Kirchenvorstand der Wunsch, die Glocke wieder zum Klingen zu bringen.

Zweimal hat die Groß-Gerauer Stadtkirche ihre Glocken an den Staat abgeliefert: 1917 sollte die Glocken­bronze aus Groß-Gerau helfen, den Erzfeind Frankreich und dessen Verbündete niederzuringen. „Für Kaiser, Volk und Vaterland“ kamen die Glocken – bis auf eine – in den Schmelzofen. 1942 sollten die – gerade erst erworbenen – Glocken der Stadtkirche wieder den Sieg und die „Ehre“ Deutschlands retten. Diesmal für „Führer, Volk und Vater­land“. Bis auf die Vaterunser-Glocke kamen sie auf den Schrottplatz und wurden wohl auch eingeschmolzen.

Im August 1944 brannte dann nach einem Bomben­angriff auf Groß-Gerau die Stadtkirche nieder und die letzte, übrig gebliebene Glocke stürzte ab. Die Reste wurden eingesammelt und aufbewahrt. Die Sirenen des Fliegeralarms und die Granateinschläge der heranrückenden Front hatten in Groß-Gerau nun endgültig den Glockenklang abgelöst. Bis endlich das nationalsozialistische Deutschland besiegt war.

Ab 1946 wurde das Gemeindehaus wiederaufgebaut und bald zur „Notkirche“ erweitert, doch für eine Glocke fehlte das Geld. Das aber kam: von den ehemaligen Feinden, auf die man kurz zuvor noch geschossen hatte – den Amerikanern. Die Groß-Gerauer Familie Faulstroh war seit 1936 mit einer Familie aus Cincinnati/Ohio befreundet und es trotz des Krieges auch geblieben. Und als die amerikanische Familie Herrlinger in Cincinnati nach dem Krieg von dem Fehlen einer Glocke in Groß-Gerau hörte, spendete sie das für den Guss und für das Läutewerk notwendige Geld. 1949 konnte deshalb auf die Notkirche ein Dachreiter gesetzt werden, in dem die neue Glocke hing. Es ist berührend, wenn man den Briefwechsel zwischen Groß-Gerau und Cincinatti liest. Ebenso, wenn man bedenkt, dass die Glocke zu einem Teil aus der Bronze der zerstörten Vaterunser-Glocke stammte. Und es ist berührend, wenn man weiss, dass in Groß-Gerau und in Rüsselsheim wenige Jahre zuvor amerikanische Kriegsgefangene von einem wütenden Mob erschlagen worden waren.

Die kleine Glocke aus der Notkirche wurde in Westfalen bei Petit und Gebr. Edelbrock gegossen und erhielt die Inschrift: „Ehre sei Gott in der Höhe (Lukas 2,14)“. Ihr Gewicht betrug gerade einmal 180 kg und ihr Ton war ein d“. Im September 1949 wurde die neue Glocke im Hof des Gemeindehauses feierlich geweiht und später in den offenen Dachreiter gehängt. Das Glöcklein erklang für vier Jahre als die ­Stimme der evangelischen Kirche in Groß-Gerau, bis im Jahr 1953 der Turm der Stadtkirche so weit wiederhergestellt war, dass zunächst fünf neue Glocken eingeholt werden konnten. Über 50 Jahre blieb die kleine Glocke nun unbeachtet in ihrem Dachreiter. Bis das alte Gemeindehaus im Jahre 2007 dem Neubau der Niederramstädter Diakonie weichen musste. Die Glocke wurde vor dem Abriss geborgen und hat nun endlich in der Stadtkirche ihren Platz gefunden.

Frieden sei ihr erst Geläute. Zur Geschichte der Notkirchen-Glocke als Erinnerung an das Wiedererstehen des Glaubens nach zwölf Jahren der gottlosen Barbarei und Mahnung, dass Versöhnung und Frieden zwischen den Völkern möglich ist, hat die Stadtkirche ein Buch herausgegeben.

Evang. Stadtkirchengemeinde, Kirchstr. 11, 64521 Groß-Gerau, Tel. 06152-910280
www.stadtkirche.gross-gerau-evangelisch.de

In einer Installation der Künstlerin Meide Büdel hat die Glocke der Groß-Gerauer Notkirche nun ihren Platz in der Stadtkirche gefunden. Besonderer Dank gilt dem Archivar der Stadtkirchengemeinde Harald Hock und Ilona Renfranz, deren großzügige Spende dazu beigetragen hat, das Projekt überhaupt in Angriff zu nehmen.

Volker Lilje
ist Mitglied im Kirchenvorstand der Evang. Stadtkirchengemeinde Groß-Gerau;
ev.stadtkirchengemeinde.gross-gerau@ekhn-net.de

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