Für die Schule oder das Leben?

Von W. Christian Schmitt.

Mit dem Format „Damals/heute“ wollen wir für unsere Leser das journalistische Angebot des WIR-Magazins erweitern. Dabei geht es um Selbst-Erlebtes vor 50 und mehr Jahren und um das, was sich bis heute verändert hat. Diesmal erinnert sich WIR-Herausgeber W. Christian Schmitt an die Zeit, als er die Oberprima des Prälat-Diehl-Gymnasiums in der Kreisstadt besuchte – und wie er unlängst noch einmal dort (wenn auch an anderem Standort) einen Unterrichtstag erleben durfte.

Sollte man den zu Pennälerzeiten oft zitierten Satz „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ (der bei Seneca übrigens äußerst kritisch genau umkehrt lautete) heute rückblickend einmal etwas genauer hinterfragen? Denn was haben wir damals alles lernen müssen – auf dass uns letztlich bescheinigt wurde: Sie haben nun „die Reifeprüfung“ bestanden. Doch was hat dies uns „im wahren Leben“ geholfen? Wie war das noch z.B. im Matheunterricht mit der Trigonometrie, mit den Sinusschwingungen, dem Kosinussatz, den arithmetischen Folgen und den Ungleichungen, mit den Logarithmen, den Binomischen Formeln, den Integralfunktionen, den Kurvendiskussionen, der dritten Wurzel, der Vektor-, der Wahrscheinlichkeitsrechnung oder gar der Ableitung transzendenter Funktionen usw. usw.?

Mathe gehörte zwar neben Deutsch zu meinen Lieblingsfächern. Aber haben mir etwa Pythagoras, Euklid oder andere jemals in all den zurückliegenden Jahren bei der Lösung beruflicher wie (zwischen-) menschlicher Probleme helfen können? Ähnlich war das Lernpensum auch in den Unterrichtsfächern Physik, Chemie oder Biologie, die nicht unbedingt zu meinen Stärken zählten. Eher schon Französisch, Englisch und Kunst.

Wenn ich heute in (m)einem „Deutsch-Hausheft“ aus dem Jahr 1965 blättere, finde ich unter dem Datum vom 28. Mai u.a. die Aufgabe: „Zeigen Sie den Aufbau, das Naturbild und das Bild der Frau in dem behandelten Gedicht von Walther von der Vogelweide…“. An das, was da dann als Antwort/Interpretation zu lesen war, kann ich mich zwar nicht mehr exakt erinnern. Aber zumindest eines ist geblieben – die Liebe zur Sprache und speziell zu Gedichten, für die u.a. meine mittlerweile mehr als 2.250 Exemplare aufweisende Lyrik-Bibliothek ein lebender Beweis ist.

Und wie sieht es heute aus in jenem Gymnasium, in dem junge Menschen „fürs Leben“ lernen? Ich war neugierig und schon ein wenig aufgeregt, als ich ausgerechnet einem Leistungskurs Mathematik beiwohnen durfte. Ist noch etwas in der Erinnerung geblieben von dem, was mich vor mehr als 50 Jahren begeistern konnte? Oder sind das alles „böhmische Dörfer“, die da an mir vorbeirauschen? Allererster Eindruck: Die Tafel ist einer Leinwand gewichen, Kreide gibt es nicht mehr. Wie berechnen wir ein Trapez, fragt die Mathe-Lehrerin – und wartet auf Antworten. Ach ja, denke ich, so ähnlich lief das damals auch in meiner Oberprima ab. Aber dann werden auch schon die Grenzen meines verbliebenen Wissens sichtbar. Vielleicht würde es Spaß machen, hier wieder in den Unterricht mit einzusteigen, in einen Wettstreit mit den Mitschülern eintreten bei der Suche nach einer richtigen Lösung.

Aber ich bin ja nur Gasthörer oder soll ich besser sagen: Journalist als Zuschauer. Gedanken wandern durch meinen Kopf: Wachsen hier in diesem Leistungskurs jene Entscheidungsträger nach, die übermorgen schon Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft beeinflussen werden? Je länger ich zuhöre, umso stärker wird spürbar, dass von der Faszination Mathematik doch noch einiges über all die Jahrzehnte hinweg geblieben ist – auch wenn es bei mir nie für eine praktische Anwendung nötig war. Klar wird mir: natürlich haben sich die mathematischen Gesetze nicht geändert, allerdings meine Sicht, wie Gewichtung. OK, das durch Mathematik-Unterricht geförderte logische Denken hat auch mir nicht geschadet. Doch, so mein Fazit, lässt sich mit (mathematischen) Formeln und Regeln das, mein Leben erklären? Wo bleibt Platz für die Phantasie? Ist das „Reifezeugnis“ eine Garantie dafür, im Leben danach nicht zu scheitern?

Dann Szenenwechsel, Lehrerwechsel, Themenwechsel. „Politik und Wirtschaft“ steht auf dem Stundenplan. Der Unterricht wird lockerer. Für Probleme gibt es plötzlich gleich mehrere mögliche Lösungen. Ganz so, wie im richtigen Leben. Es geht um Rolle und Funktion von Parteien. War das zu meiner Zeit in dieser Form ein Unterrichtsthema? Ich kann mich nicht erinnern. Die Schüler diskutieren, Ansichten wie Einsichten gehen auseinander. Es wirkt auf mich spannend, dem Austausch von Argumenten zuzuhören. Hier wird nicht nur (Grund-)Wissen vermittelt, hier haben unterschiedliche Sichtweisen ihren Platz. Demokratie, wie man sich diese wünscht. So macht Unterricht Spaß.
Dann klingelt es zur Pause, wenn ich das richtig registriert habe. Mein Ausflug in meine Gymnasiasten-Vergangenheit endet hier. Bleibt mir nur noch der Blick weit zurück, als am 9. November 1966 das Darmstädter Echo übers Groß-Gerauer Gymnasium mit der Überschrift „Alle bestanden ihr Abitur“ berichtete. In dem Artikel war auch zu lesen, welche Berufswünsche die 52 Oberprimaner damals hatten. Klaus Meinke (heute ehrenamtlicher Stadtverordneten-Vorsteher in der Kreisstadt) z.B. gab damals an, dass er Lektor werden wolle – und wurde schließlich Studiendirektor in Darmstadt. Bei mir stand übrigens in besagtem Zeitungsartikel als Berufsziel „Journalist“. Und das bin ich bis heute geblieben.

In unserer Serie „Damals/heute“ sind bislang erschienen: „Konfirmanden-Unterricht: Der Tag, an dem die Kindheit endete“ (WIR Nr. 278), „Lehrzeit: Als man Azubis noch Lehrlinge nannte“ (WIR Nr.281), „Echo-Volontariat: Die Zeitung ist tot? Es lebe die Zeitung“ (WIR Nr. 284) sowie „Tanzstunde: Ein Kribbeln in den Beinen ist geblieben“ (WIR Nr. 287).

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