Kein Platz für Max und Moritz

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von W. Christian Schmitt

Mit Werner Radke, Bäckermeister aus der Kreisstadt, setzen wir unsere Serie „Aus nächster Nähe“ fort, in der wir Personen des öffentlichen Lebens aus dem Gerauer Land einen Tag lang in ihrem Alltag begleiten. In den ersten Folgen konnten unsere WIR-Leser hautnah erfahren, wie Landrat Thomas Will (Ausgabe 238), MdL Günter Schork (Ausgabe 239) und Mirella Weitzmann (Chefin des kreisstädtischen Renault-Autohauses Gescheidle; Ausgabe 244) ihren beruflichen Alltag gestalten.

Es ist nicht die Zeit, zu der normalerweise Journalisten recherchieren. Und dies auch noch vor Ort. Denn es ist 2 Uhr 51 in der Nacht, als ich an meinem Zielort eintreffe. Die Kreisstadt schläft noch. Dennoch hier und da sind bereits einige Lieferwagen unterwegs. Wo die wohl hinwollen. Ich will zur Bäckerei Radke in der Frankfurter Straße, von wo aus man das Historische Rathaus schräg gegenüber im Lichterglanz sehen kann. Einen Parkplatz zu dieser Uhrzeit zu finden, ist einfach.
Einige Schaufenster, an denen ich vorbeikomme, sind noch erhellt, indes werden die Inhaber der Geschäfte wohl noch einige Stunden dem Schlaf frönen können. Ganz anders sieht es aus in der Bäckerei. In der Backstube brennt nicht nur schon Licht, dort ist man längst hellwach, und der alltägliche Betrieb hat bereits begonnen. Für Bäckermeister Werner Radke und Stephan „Chappi“ Czaplicki, die rechte Hand des Chefs, heißt es: einmal mehr muss nun alles Hand in Hand gehen. Auf den Blechen liegen bereits die Brötchen-Teigstücke, werden bemehlt und „auf Gare“ geschoben, später dann in den Backofen. Mittlerweile sind auch die beiden Gesellen und die Azubis an Bord – und es wird eng(er) in der Backstube.
Ich versuche mich, ganz in weiß gekleidet, so zu platzieren, dass ich zwar alles mitbekomme, aber möglichst keinem im Wege bin. Denn alles geht hier fix. Jeder Handgriff ist tausendfach geübt. Man kann bereits im Ansatz riechen und sich vorstellen, was dann ab 5.00 Uhr im Verkaufsraum der Bäckerei dem Kunden präsentiert wird.
Was entsteht denn alles hier in der Backstube? Wie wird der Mengen-Bedarf an Brot, Brötchen und anderen Backwaren ermittelt? Welche Zutaten werden benötigt? Bäckermeister Radke lässt sich nicht in seinem Tagewerk, nein: Nachtwerk unterbrechen, liefert aber auf alle meine Fragen präzise Antworten. Gebacken werden für den Tag (das Hauptgeschäft und die beiden Filialen in Büttelborn und Nauheim) rund 3.000 Brötchen und etwa 250 Kilo-Brote, dazu gibt’s noch allerlei Torten, Kuchen und Teilchen. Die Backmengen werden jeden Abend nach Eingang der Bestellungen und unter Berücksichtigung der Wetterlage oder auch Ferienzeit festgelegt. Danach werden die herzustellenden Teigmengen berechnet. „Da braucht man schon ein bisschen Fingerspitzen- und Bauchgefühl, welche Mengen benötigt werden.“ Und was ist das dort? frage ich. Ein Gär-Unterbrecher. Brötchen z.B. können dort bei optimaler Temperatur und Luftfeuchtigkeit gären, bis sie reif für den Ofen sind. Sind das dort vorne nicht Partybrötchen? Ja, die benötigen dann zwanzig Minuten Backzeit. Während ich so meine Fragen stelle, fällt mir auf, dass hier in der Backstube eigentlich wenig geredet wird. Jeder scheint die Abläufe zu kennen und vor allem seinen jeweiligen Einsatz. Noch etwas Berufliches, Herr Radke. Wann stand bei Ihnen die Meisterprüfung an? Werner Radke blickt kurz auf: 1975! Die umfangreiche Bäckertradition der Familie Radke, also die Firmen-Chronik und wer im Moment das Unternehmen leitet („aus dem Chef ist ein Teilzeitrentner geworden“, sagt Werner Radke), ist dem obenstehenden Kasten zu entnehmen bzw. auf www.radkes-backstube.de zu erfahren.
Überall sehe ich mittlerweile Backbleche mit Gebäckstücken, die auf den heißen Ofen warten. Ein bisschen erinnert all das hier an „Max und Moritz“, aber nur ein wenig. Denn die Backöfen hier laufen ohne offenes Feuer, und damit ist auch kein Platz für Wilhelm Busch und seine Geschichten. Zwei andere jedoch, nämlich der längst verstorbene Onkel Heinrich und Vater Artur sind zwar auch Geschichte, aber dennoch allgegenwärtig. An sie erinnert das „Onkel Heinrich“-Brot und „Arturs Roggenmisch“, das nach alten Rezepturen entsteht. Es ist gegen vier Uhr, und in der Backstube kann man sich bereits an den ersten goldgelben Brötchen erfreuen. Davon werde ich mir später, wenn meine „Schicht“-Pause ansteht, unten im Stehcafé zwei mit einer Tasse Kaffee gönnen. Aber noch heißt es aufpassen, was hier alles unsere Leser interessieren könnte. Ach ja, wie war das noch mal mit den Verbrauchsmengen der Back-Zutaten pro Woche? Zusammen kommen da 3 Tonnen Mehl, 10 Sack Zucker, 40 Kilo Salz, 60 Kilo Hefe etc.
Es ist jetzt 4.35 Uhr. Immer mehr Brote, Brötchen, Kaffeestückchen und Croissants kommen fertig aus dem Ofen. Zwischendrin bleibt Zeit, die eine oder andere Frage loszuwerden: Ist Bäcker heute noch ein Traumberuf, wenn man mitten in der Nacht aufstehen muss? Wenn man zu einer Zeit arbeiten muss, zu der andere in dieser Republik noch lange schlafen. Ja, es macht immer noch Spaß. Das klingt glaubhaft. Aber ob ich das als Bäckerlehrling durchgestanden hätte? Worin unterscheiden sich Radkes Croissants von denen, die man in Paris genießen kann? Die Antworten werden amüsanter: „Sie werden nicht so schnell trocken wie die französischen!“. Dann läutet wieder ein Gong, der ankündigt, dass neuerlich Frischgebackenes aus dem Ofen kann. Chef-Bäcker Radke wird zunehmend gesprächiger. Ja, seit 1980 sei er in der Bäckerinnung engagiert, zurzeit stellv. Obermeister der Bäckerinnung Wiesbaden-Darmstadt. Es ist 5.10 Uhr. In der Bäckerei Radke legt man eine Kaffee-Pause ein. Das tut gut. Die Tageszeitung ist auch schon da. Gibt’s was Neues aus der Kreisstadt oder den Nachbargemeinden, wo man Filialen betreibt?
Die Arbeit geht weiter. Doch hier endet unsere Reportage, die aufgezeichnet wurde von W. Christian Schmitt.

Radkes Familientradition: Das Bäckerhandwerk hat in der Familie Bender/Radke Tradition. Der erste Bäckermeister lässt sich auf das Jahr 1795 zurückführen. Seither wurde diese Tradition ohne Unterbrechungen weitergeführt. Das Ladengeschäft in der Frankfurter Straße in Groß-Gerau wird seit 1844 an diesem Standort als Bäckerei geführt. Heinrich, der ältere Bruder von Else Radke, geb. Bender, übernahm die Bäckerei seiner Eltern. Bald darauf musste er aber in den Krieg ziehen, aus dem er nicht zurückkam. Somit führte seine Schwester Else den elterlichen Betrieb mit ihrem Mann Artur Radke weiter. 1979 übergab dieser den Betrieb an seinen Sohn Werner Radke, der 1975 den Meisterbrief erhielt, zuvor in Aschaffenburg den Beruf des Bäckers und Konditors erlernte und in Frankenthal seine Backkunst verfeinerte. Am 01.01.2016 übernahm die älteste Tochter Sonja Huppke den elterlichen Betrieb. Als gelernte Werbekauffrau kehrte Sonja Huppke (unser Foto), 2004 in den elterlichen Betrieb zurück, um diesen weiterzuführen. „Ich beschloss damals, meine Arbeitskraft lieber dem Familienunternehmen zu widmen und die über 220 Jahre lange Tradition nicht mit meinem Vater enden zu lassen.“ Somit erlernte sie ebenfalls den Beruf des Bäckers und absolvierte nach erfolgreicher Gesellenprüfung die Bäckermeisterprüfung. Damit ist sie die 8. Generation, die das Handwerk des Bäckermeisters fortführt.

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