Vom Kriegsende in Königstädten
Von Rainer Beutel.
In einer mühevollen Fleißarbeit hat Wolfgang Einsiedel vom Verein Königstädter Hofkonzerte recherchiert, wie der Zweite Weltkrieg in Königstädten zu Ende ging – mit Schrecken, Angst und Tod. Durch Gespräche mit Zeitzeugen ergab sich eine Wissensfülle, die früher oder später schriftlich dokumentiert werden soll, wie Einsiedel im Interview mit WIR-Redakteur Rainer Beutel erklärt.
Herr Einsiedel, Sie haben sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Königstädten befasst und dafür viele Zeitzeugen befragt. Was motiviert Sie zu dieser historisch wertvollen Chronistenarbeit?
Wolfgang Einsiedel: Neugierde, Heimatverbundenheit, Identität, Betroffenheit, Bewahrung. Von Allem etwas. Im Gespräch mit den Zeitzeugen dachte ich, das darf eigentlich nicht vergessen werden.
Sie haben unter anderem die Geschichte von einem General recherchiert, der nicht weit von Königstädten entfernt in den letzten Kriegstagen den Freitod gewählt hat. Was war da los?
Wolfgang Einsiedel: Chaos. Nach irrsinnigen Durchhaltebefehlen aus Berlin und unter dem Druck von Todesdrohungen und Sippenhaft führen die Wehrmachts-Offiziere noch nicht fertig ausgebildete Soldaten ohne ausreichende Bewaffnung gegen die bestens ausgestatten Amerikaner. Die Äcker zwischen Königstädten, Nauheim, Trebur und Astheim wurden so eine Woche vor Ostern 1945 zu regelrechten Schlachtfeldern. Hunderte junger, hoffnungsvoller Männer wurden völlig sinnlos innerhalb weniger Stunden getötet. Vielleicht sollte man besser sagen: abgeschlachtet. Wenn man dafür eine Mitverantwortung trägt, kann man mit einem Rest von Gewissen schon an Selbstmord denken.
Welche Folgen für Königstädten und vielleicht auch für Nauheim hatte der Tod des Generals?
Wolfgang Einsiedel: Meine Eltern haben immer gesagt: „Die Amerikaner haben uns überrollt“. Sie meinten damit, Königstädten ist kampflos eingenommen worden. Das gilt übrigens auch für die Nachbarorte und für Groß Gerau. Vielleicht ist durch des Generals Freitod die Befehlsstruktur zusammengebrochen. Ich halte es aber für wahrscheinlicher, dass der berühmte „Ruck“ durch die Köpfe der übrigen Offiziere ging: „Wenn der schon einsieht, dass alles sinnlos ist …“ und so weiter. Später entlässt ein anderer Offizier seine Soldaten sogar mit einem Marschbefehl in Richtung Heimat. Sie laufen aber SS-Einheiten in den Weg und werden zum Weiterkämpfen gezwungen.
In Berichten der Zeitzeugen wird der ganze Irrsinn des Kriegs spürbar. Nennen Sie dafür doch bitte mal ein markantes Beispiel.
Wolfgang Einsiedel: Die Hitlerjugend aus Königstädten und Nauheim wurde per Befehl mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Sammelstelle geschickt, um die Wehrmacht als letztes Aufgebot beim Kampf gegen die anrückenden Amerikaner zu unterstützen. Im Wald bei Mönchbruch kommen ihnen zum Glück Bedenken. Im Gespräch untereinander erkennen sie die Sinnlosigkeit des Einsatzes. Sie haben aber sowohl Angst vor der SS als auch vor den Amerikanern. Es siegt die Befehlsverweigerung, und sie kehren unbeschadet nach Hause zurück oder verbringen die Nacht in Baumwipfeln. Eine mutige Entscheidung und ein kleiner Beitrag zum schnelleren Ende des Krieges.
Es gab Königstädter wie Philipp Best, deren kurzentschlossenes Handeln, einen Trupp des Volkssturms zurückzuschicken, den Einheimischen weitere unnötige Opfer erspart hat. Was glauben Sie, ist den Menschen davon noch in Erinnerung geblieben, und was wollen Sie tun, um solche Erinnerungen als Mahnung wach zu halten?
Wolfgang Einsiedel: Philipp Best war ‚Opler‘ und soll ein guter Fußballer gewesen sein. Obwohl er in zwei Vereinen gespielt hat, habe ich erst jetzt ein Foto von ihm gefunden. In Erinnerung ist den Zeitzeugen auch sein mit Flicken übersäter Blaumann. Er muss unauffällig und bescheiden gewesen sein. Als die Nazibonzen flüchten, übergeben sie ihm die Befehlsgewalt über den Volkssturm und er schickt dieses letzte Aufgebot sofort nach Hause: „Geht hoam ihr Leit, des hoat alles koan Zweck meh!“ Das ist Befehlsverweigerung und wurde normalerweise mit standrechtlichem Erschießen bestraft. Philipp Best hat mit seiner mutigen Entscheidung wahrscheinlich aber vielen Königstädtern das Leben gerettet. Daher war ich froh, jetzt ein Foto von ihm zu haben. Die Königstädter Hofkonzerte werden sein Foto mit den Erzählungen der Zeitzeugen im nächsten Jahr in einer Broschüre oder einem Buch veröffentlichen.
Königstädter Jungen kamen kurz vor Kriegsende bei einem Fliegerangriff zu Tode.
Wolfgang Einsiedel: Fast alle Dörfer werden kurz vor der Einnahme durch die Amerikaner von Artillerie beschossen. In Königstädten wurden dabei zwei Buben beim Spielen in ihrer Gasse getötet. Sie waren den Müttern in einem kurzen, unbeachteten Augenblick aus dem Keller entwischt. Ein 15jähriges Mädchen verliert damals durch einen Granateinschlag in ihrem Haus ein Bein. Trotz Ortskenntnis irren die Eltern mit ihr auf einem Leiterwägelchen zwölf Stunden durch die Gegend. Die Verbandsplätze sind aber schon alle weit hinter die neue Front verlegt worden. Unter freiem Himmel konnte man sich tagsüber nicht bewegen, ohne von Tieffliegern beschossen zu werden. Erst spät in der Nacht finden sie im Opelbunker ärztliche Hilfe.
Gab es bei Ihren Zeitzeugengesprächen trotz aller Erzählungen von den Schrecken des Krieges auch angenehme Berichte über das „alte“ Königstädten?
Wolfgang Einsiedel: Mit einigen Zeitzeugen hatte ich vorher nur ein oder zweimal und nur kurz oder im Vorübergehen gesprochen. Und trotzdem spürte ich jetzt bei den Gesprächen über die ‚alten Zeiten‘ sofort eine große Verbundenheit und Vertrautheit mit ihnen. Wir sind halt in einem gemeinsamen Umfeld, unserem Königstädten, aufgewachsen. Den meisten fällt es heute schwer Dialekt zu reden, dabei kann man mit Dialekt Situationen oft entspannter umschreiben. Beispiel: Die Amerikaner sind oben im Hof, ein älterer Bauer erkundet die Lage. Als er in den Keller zurückkommt, die bange Frage der Anderen: „Un?“ Seine Antwort: “Alles Lapp-Ärsch“. Wahrscheinlich waren es die leisen Gummisohlen statt der genagelten Knobelbecher, die legeren Bewegungen der Amerikaner, statt der zackigen der deutschen Soldaten, die ihn zu seiner Aussage veranlassten. Aber mit seinem Urteil „alles Lapp-Ärsch“ hatte er deutlich zur Entspannung im Keller beigetragen.
Was folgt aus Ihrer Arbeit? Werden Sie die Erzählungen und Erinnerungen niederschreiben und vielleicht ein Buch veröffentlichen?
Wolfgang Einsiedel: Das haben wir im Auge. Vielleicht wird das geplante Werk etwas umfangreicher. Wir haben den ausführlichen Bericht eines Königstädters gefunden, der fünf Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft war. Daneben die Aufzeichnungen eines Banat-Deutschen, der am Ende seiner Nachkriegs-Odyssee in Königstädten landet. Beides tolle Zeitdokumente die mit Königstädten und der Zeit in unmittelbarer Verbindung stehen.
Wolfgang Einsiedel
hat viele Zeitzeugenberichte über das Ende des zweiten Weltkriegs in Königstädten zusammengetragen;
einsiedel-koenigstaedten@t-online.de