50 Jahre Flughafen-Protest
![]() | Siggi Liersch arbeitet als Lehrer und Liedermacher in Mörf.-Walldorf; siegfried.liersch@gmx.de |
von Siggi Liersch
Im Mainbook Verlag Frankfurt ist nun Band 1 des Werkes „50 Jahre Protest gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens, Zeitdokument 1965-2015“ erschienen, aus dem wir unseren Lesern mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber Walter Keber, Wilma Frühwacht-Treber und Dirk Treber sowie des Autors Siggi Liersch den Text „Blätter“ vorstellen. Band 2 wird zu Ostern erscheinen.
Schau, wie die Blätter nach dem Überschreiten der Kältegrenze zu Boden fallen. Da rieche ich diese samtene Fäulnis, diese Molchfeuchte. Mit den dünnen alten Lederschuhen treibe ich Herbstwasser an den Rand der Fußkrater. Durch die Risse des Oberleders dringt Nässe ein, die Socken auf glattfeuchtem Grund.
Der Waldweg schlierig. Eine Rutschpartie hin zur Wiese. Mit dem Schild NATURSCHUTZGEBIET. Die Bäume kettengesägt und gestürzt, aber den Käfer betrachten sie mit nassen Augen. Ein Schlag mit dem Gummiknüppel und dir springt der Schädel mit der Vorahnung einer Metallplatte, ein hohes Aufschlagssirren. Die Gesichter mit den langgezogenen Blutspuren, mit den dunkler werdenden Eintrocknungen. Mit dem Abbröckeln und Wegplatzen. Übrig blieben: Kleine, von einem feinen Geäder umgrenzte Flächen, die aussahen wie Inseln oder Kontinente. Verwischte Wut und Tränen, die diese Erdteile durchflossen. Vermischungen von Flüssigkeiten des Körpers.
Blätter wehen über die Startbahn West, in meinem Herzen ein gefrorenes Rauschen. Was ist ein vielstimmiger Wald gegen die Leere einer digitalisierten Betonpiste? Ein Zischen in den Ohren, wenn vertrocknete Blätter im Hitzestrahl der Düsen kräuselnd zerbröseln. Ein Eichhörnchen spielt mit einem farbabblätternden Joghurtbecher. Im Dröhnen neben der Flugbahn. Wie viele Tränen sind nicht getrocknet, wurden in die Bärte gedrückt, hinter die Ohren getrieben, die Backen hinunter, in die ohnmächtig geöffneten Münder, auf die Zungen?
Schon im darauf folgenden Jahr kam das frische Grün, ein Gräsergrün, geduckt sprießend, nicht sonderlich tief verwurzelt, ein Unkrautgrün, das leicht zu entfernen ist, als hätte man nicht die nackten, fröstelnden Oberkörper für eine kurze Zeit wie Sieger posieren und gewähren lassen. Als hätte eine Chance bestanden, die Luft mit einem hundertprozentig durchgesetzten Nein! zu beleben.
Flieger, Papa, kuck, Flieger, sagt Pepe mit dem unbekümmertsten Breitwandlächeln, mit einer grenzenlosen Begeisterung, die kaum steigerungsfähig scheint. Und sein Blick folgt dem silbernen Riesen, der elegant und wie an einer Schnur gezogen schräg abhebt. Und in diesem Moment wünsche ich ihm das notwendige Glück und die dementsprechende Technik, ohne Komplikationen zu landen.
Ich denke an die Stones. Wenn ich ihre Musik auflege, schreit Pepe: Andere Lala, Papa, andere Lala! Und hält sich theatralisch die Ohren zu. Und hier? Mit offenem Mund freudigster Fassungslosigkeit schaut er dem betäubenden Start zu.
Zuhause im Sandkasten lag ein knittrigbraunes Blatt. Kuck, Papa, Blatt. Und achtlos warf er es in den plötzlich wärmer werdenden Wind. Wir pflanzten eine Thujahecke, hoben Pepe aus den Pfützen des Anwässerns. Er wollte Dreirad fahren. Ab in den Wald!
Das Vergangene ist unwirklich, im Abgehackten pulsiert der Phantomschmerz. Aber wenn ein Stück weg ist, dann gibt es nicht einfach weniger. Und einer mehr ist ein ganzes Leben. Ist viele Neins und Jas und viel Kopfschütteln. Das Kindergeschrei schrill und durchdringend. Der Kleine hat ein stärkeres Durchsetzungstemperament als ich Dahingelebter.
Hallo, Papa, ruft Pepe. Kleine, ausgebreitete Arme in große, ausgebreitete Arme. Ich nehme mir vor, auch das nicht vergessen zu wollen. Und dann setzt ein Regen ein, der den Waldweg, der nun ein Feldweg geworden ist, zäh und schwer begehbar macht. Mit dem nächsten Schritt steckt ein Kinderschuh im Schlamm, schmatzt eine Strumpfhose im Nass. Bleib‘ stehen, sag‘ ich, rühr‘ dich nicht, ich zieh‘ dich raus. Wie kurz diese kleinen Arme sind. Da funktioniert noch kein Über-dem-Kopf-Verschränken. Nasse, schwere Erde schmiert über meine schwarze Lederjacke. Der Regen wäscht nicht alles ab. Er verflüssigt, verteilt, und kleinere Erdklumpen fallen zu Boden. Ich bücke mich nach dem Schuh, dem der Fuß fehlt. Mit Mühe entferne ich ihn aus dem schlammigen Gefängnis.
Kuck, Papa, Dreck, wegmachen. Achtlos streift er mir mit dem Handballen übers Gesicht. Mit dem Regen ziehen Kälte und ein wenig Nebel über die Wiesen. Wir bleiben auf den schlammigen Wegen. Im Naturschutzgebiet haben sich die Käfer unter Blätter und Halme verkrochen. Samtene Fäulnis, modrige Molchfeuchte. Beruhigt denke ich mir, dass mich das alles überdauern wird. Auch die Kettensägen, die Gummiknüppel und die Schädelplatten aus Metall werden in den morastigen Boden sinken.
Dröhnen auf der Flugbahn, vor den Betonstreben ein Hügel aus farbabblätternden Joghurtbechern. Kuck, Papa, Fliegen. Und Pepe wedelt mit seiner Verscheuchhand. Das sind Ameisen, keine Fliegen. A-mei-sen, spricht er nach. Ungläubig, nicht wirklich überzeugt.
Siege und Niederlagen. Sind das nicht völlig unnütze Wörter? Ohne Absender und Adressat. So kurz wie ein raues Lied der Stones. Sing it again, Mick. Und dann ist der Sieg die Wiederholung eines Sieges und die Pause zwischen den Songs die Fortsetzung der Niederlage. Und am Ende die lange, die schließlich andauernde Pause, die endgültige Niederlage. Kein CD-Player, kein Cassettengerät, kein Plattenspieler. Nichts besiegt das lautlose Rauschen.
Will selber laufen, sagt Pepe, und ich ziehe ihm den verkrusteten Schuh an. Sein Dreirad ziehe ich hinter mir her. Der Regen verwischt und der Nebel löst sich auf. Pepe läuft leicht im wieder warmen Wind. Vor Jahren das Gehetze über die Wiesen aus dem Klammerlauf der Hundertschaften. Das Vergangene ist unwirklich, im Abgehackten pulsiert der Phantomschmerz.
Auf den Betonstreben der Startbahnmauer verblassen die Parolen: Auf Dauer hält keine Mauer. Ihr Gewissen war rein – sie benutzten es nie. Kämpft mit Mut und Phantasie – darin schlagen sie uns nie!
Male, male, Papa. Ich stehe vor einem Wassergraben und kneife entziffernd die Augen zusammen.
Die Bäume fielen nach dem Überschreiten staatlicher Geduldsgrenzen. Die Blätter fallen nach dem Überschreiten natürlicher Kältegrenzen. Ich roch diese samtene Fäulnis, diese Molchfeuchte. Alarmketten, Glockengebrüll. In Turnschuhen auf schlierigen Waldwegen. Kettensägen, nasse Augen. Wie sollte man da heiter bleiben? Blätter wehten aus Geästen ins gefrorene Rauschen der Herzen. Trocknende Hirne im Hitzestrahl der Wut.
Nun bleiben Datierungen und Archivierungen. Klagen? Auch in kommenden Jahren rechne ich mit frischem Grün.
Wenn Pepe ein Polizeiauto sieht, zittert er vor überschäumender Begeisterung. Tatütata, Papa, Tatütata. Wie zielstrebig er sein Dreirad besteigt. Wohin willst du, Pepe? Eisdiele, Papa, bitte, bitte, ein Eis! Und dann plappert er weiter. Ich sehe seine Mundbewegungen. Über mir ein Dröhnen, das jedes Geräusch überlagert. Ich entziffere: Flieger, Papa, kuck, Flieger. Ja, denke ich mir. Von einem Nest zum andern. Vom Wald zur Startbahn. Von den Stones zu anderer Lala.
Die Jahre fallen nach dem Überschreiten der Erinnerungsstachel ab. Was ist eine vielstimmig dröhnende Betonpiste gegen den Phantomschmerz eines leeren Waldes? Meine Ohren wie vertrocknete Blätter, meine Haare wie das saftloseste Gras, meine Arme und Beine wie ausrangierte Äste. Das Vergangene ist unwirklich. Aber wenn ein Stück weg ist, dann gibt es nicht einfach weniger. Und etwas mehr ist schon ein ganzes Leben.