Leseprobe: Willi Wischlowski

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Anette Welp
ist Autorin, Verlegerin und Frauenbeauftragte in der Treburer Gemeindeverwaltung;

augenauf.welp
@t-online.de

Anette Welp, Autorin, Verlegerin und nicht zuletzt WIR-Kolumnistin, hat mit „Die Welt meistern. Geschichten und Gedichte“ ein neues Buch veröffentlicht, aus dem wir – mit freundlicher Genehmigung der ­Autorin, unseren Lesern den Text „Willi Wischlowski“ als Leseprobe ans Herz legen.

Jeden Morgen geht Willi Wischlowski um sieben Uhr zwanzig aus dem Haus. Setzt sich in sein Auto und fährt zu seinem Schreibtisch. Sieben Uhr dreißig öffnet er seine Aktentasche. Legt das, was er heute erledigen muss, auf seinen Schreibtisch: Butterbrotdose, ein Päckchen Milch, einen von seiner Frau geschälten, halben Apfel, Notizen vom gestrigen Abend.
Sein Schreibtisch ist immer leer. Nicht so wie bei seinen Angestellten, die nichts finden, ständig auf der Suche sind nach unbeschriebenen Zetteln. Sein Schreibtisch ist sauber. Wie auch er selbst. Frisch gewaschen, duftend, kariert beschlipst sitzt Wischlowski auf seinem Drehstuhl, die Hände gefaltet, wartet. Mal dreht er sich in die eine, mal in die andere Richtung. Je nachdem, von woher er Stimmen vernimmt.
Wischlowski ist Politiker. Das wollte er immer werden. Nun ist er wichtig. Wischlowski hat zwei Anzüge. Einen braunen und einen schwarzen. Die Hosen sind ein bisschen zu lang. Aber hinter seinem Schreibtisch fällt das gar nicht auf. Sollte er noch wachsen, dann würden sie schon passen. Anders bei den Anzugsjacken. Wischlowski passt exakt in die Anzugsjacken hinein, kann so gerade noch die Knöpfe schließen. In seiner Freizeit trägt Wischlowski Jeans, so wie es sich für einen aufgeschlossenen Politiker geziemt.
Der Politiker und Schreibtischhocker Wischlowski macht immer Überstunden. Er betritt morgens um sieben Uhr achtundzwanzig sein Büro, und er verlässt es abends um zwanzig Uhr dreißig. Dann sind bereits alle Angestellten zu Hause. Wischlowski schleicht dann durch die heiligen Rathaushallen und dort, wo er noch etwas Wichtiges entdecken kann, genau dort entdeckt er es dann auch. Wischlowski ist nicht sehr beliebt. Aber das nimmt er in Kauf. Einer, der eine wichtige Position innehat – und das hat er, den können eben nicht alle mögen. Wischlowski mögen nur drei seiner Angestellten: Seine Sekretärin, sie muss ihn schließlich mögen, sonst ist ihr Job die Hölle; die Putzfrau, denn die bekommt immer die Reste seines Butterbrotes für ihren Hund, und der Hausmeister. Der Hausmeister mag ihn tatsächlich.
An einem kalten Winterabend verlässt Willi Wischlowski um Punkt zwanzig Uhr dreißig sein Büro. Heute muss er zu Fuß nach Hause gehen. Am Morgen war die Straße spiegelglatt, so dass Wischlowski vernünftigerweise sein Auto in der Garage hat stehen lassen. Er ist der Bürgermeister und er hat eine Vorbildfunktion.
Seit achtzehn Jahren lebt Wischlowski nun in dieser Kleinstadt. Und heute Abend läuft er zum ersten Mal auf dem schnellsten Weg nach Hause. Er hofft, dass es der schnellste Weg ist, denn eigentlich kennt er sich zu Fuß gar nicht aus. Er läuft durch kleine Gassen, die er niemals zuvor gesehen hat. Er wundert sich über die schlechte Beleuchtung. Wischlowski kann nicht anders. In seiner Aktentasche sucht er nach seinem Notizblock. »Grabengasse – Beleuchtung verbessern«, schreibt Wischlowski feinsäuberlich mit einem kleinen Bleistift auf.
Ähnlich ist es auch in der Friedhofstraße. Wieder kann er kaum erkennen, wohin er laufen muss. »Friedhofstraße – ebenfalls Beleuchtung verbessern – mindestens zehn Laternen«, schreibt er wieder feinsäuberlich in sein Notizbuch. An diesem Abend kommt Willi Wischlowski nicht zu Hause an.
Der Gärtner findet nächsten Morgen nahe dem Friedhof ein Notizbuch und einen Hut. Genau neben dem offen stehenden Kanaldeckel. Lange steht der Gärtner vor der schwarzen Öffnung. Er denkt darüber nach, wer den Kanaldeckel geöffnet hat und vor allem, warum. Als der Gärtner hineinruft und keine Antwort erhält, schiebt er mit ganzer Kraft den Kanaldeckel zu. Die Ratten dürfen nicht hinauf.

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