Manchmal werden Wünsche wahr
Von W. Christian Schmitt.
Mit dem Format „Damals/heute“ wollen wir für unsere Leser das journalistische Angebot des WIR-Magazins erweitern. Dabei geht es um Selbst-Erlebtes vor 50 und mehr Jahren und um das, was sich bis heute verändert hat. Diesmal erinnert sich WIR-Herausgeber W. Christian Schmitt an die Zeit, als er in der Kreisstadt erstmals als Herausgeber einer Jugendzeitschrift auftrat.
Als am 27. Oktober 1966 das Darmstädter Echo unter der Überschrift „Mit sehr viel Idealismus. Jugendzeitschrift aus der eigenen Tasche finanziert“ ausführlich darüber berichtete, dass ich mir einen ersten Wunsch erfüllen konnte, waren Überraschung und Freude gleichermaßen groß. Zu lesen war in dem zweispaltigen Artikel u.a.: „Es darf“ heißt eine Jugendzeitschrift, deren erste Nummer seit einiger Zeit in Groß-Gerau, Berlin, Ingolstadt und Bocholt angeboten wird. Vielfach wird sie dabei über Freunde, Bekannte des Herausgebers und deren Mitarbeiter vertrieben. In Groß-Gerau kann man sie allerdings auch in der Buchhandlung Schall kaufen. Initiator, Herausgeber und Chefredakteur in einer Person ist der Groß-Gerauer Primaner Winfried Christian Schmitt. Mit der ersten Ausgabe, so meinte der Herausgeber, habe man zwar ein Defizit in der der Kasse bekommen, man sei jedoch keineswegs entmutigt…“.
„Es darf“ gehörte zu den mehr als 100 Subkultur-Blättern (später dann underground-press genannt) jener Zeit, in denen junge Menschen sich artikulieren konnten, sich auflehnten gegen verkrustete gesellschaftliche Strukturen, gegen „das Establishment“ und all das, was von Elternhaus und Staat vorgegeben schien. Es war die Zeit, kurz bevor immer mehr dachten, dass viele Veränderungen möglich seien.
Wenn ich heute mir die zahlreichen Briefwechsel von einst noch einmal durchlese und sehe, woher die Zuschriften kamen, bin ich erstaunt. Texte mit der Bitte um Berücksichtigung in einer der folgenden Ausgaben kamen aus Innsbruck, Helmstedt, Herne, Münster, Binningen in der Schweiz, Dillingen, Berlin, Ingolstadt, Hamburg, Bocholt, Bern, Andernach, Rottenmann in Österreich, Heilbronn, Gremmendorf, Liebefeld in der Schweiz etc. Mehr noch: Die Stadtbücherei Dortmund (Zeitschriftenstelle) bat ebenso um Zusendung von Es darf-Exemplaren wie die Bibliothek der Stadt Linz oder der Stuttgarter Barsortimenter Koch-Neff. Woher die alle von dem in der Kreisstadt Groß-Gerau gestarteten Experiment „Es darf“ wussten? Tatsache ist aber auch, dass zu jener Zeit offenbar schon der Grundstein für der Aufbau eines Netzwerkes gelegt wurde, von dem ich bei meiner späteren journalistischen Arbeit im Bereich Literatur- und Buchmarkt-Beobachtung profitieren konnte.
Die kleine Zeitschrift hatte sogar Anzeigen im Blatt, u.a. von dem Fotogeschäft Hohlöchter (in der Friedrichstraße), vom Lebensmittelladen Anna Bender (Groß-Gerau, Adam-Rauch-Str. und Nauheim, Bahnhofstraße), von der Buchhandlung Emma Schall (Jahnstraße), von der Fahrschule Wilhelm Kuntze (Schillerstraße), vom Druck- und Verlagshaus Fink und sogar von der Bundeswehr. Aber letztlich reichte „der Atem“ nur bis Ausgabe Nr. 7, die 1969 erschien.
Dem jugendlichen Abenteuer in der Kreisstadt sollten jedoch (neben meinen journalistischen Aufgaben) weitere Herausgeber-Stationen folgen. So startete am 23.4. 1999 (zusammen mit Bürgermeister Gerd Lode und Grafikdesigner Harry Hummel) im Odenwald „WIR in Reichelsheim. Die Zeitschrift fürs Obere Gersprenztal“, dem dann in Darmstadt „WIR. Das Regionalmagazin“ folgte (mit Darmstadts Bürgermeister a.D. Horst Knechtel und mir als Herausgeber; für das wir sogar Rundfunk-Werbung schalteten) und das sich mit Ausgabe Nr. 96 (im April 2006) mit einer monatlichen Auflage von 33.000 Exemplaren von seinen Lesern verabschiedete. Schließlich kam es am 17. August 2001 in Groß-Gerau zum Start von „WIR. Das Kreisstadtmagazin“, das seitdem von Michael Schleidt (der sein Anzeigenblatt „gg extra“ einbrachte) und mir herausgegeben wird.
Als Herausgeber zu fungieren, also quasi als sein eigener Chef all das im Sinne der Leser zu realisieren, was einem wichtig erscheint, ist letzte Stufe eines journalistischen Lebens. Alles begann mit dem Volontariat (beim Echo), über die Stationen Kulturredakteur (Hannoversche Allgemeine Zeitung), geschäftsführender Redakteur (Dortmunder „buchreport“) bis hin zum Mitglied der Chefredaktion (beim Frankfurter Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel). Man kann natürlich auch sagen: Alles begann 1966 mit der Herausgabe von „Es darf“ in Groß-Gerau.