Moral – Vom großen sozialen Experiment
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Von Dr. Wolfgang Fenske
In der Antike gab es keine einheitlichen Moralvorstellungen. Es gab Menschen, die Moral einforderten, wie der alte Cato, der beklagte, dass die Moral sinke. Kaiser Augustus wollte hier und da die Moral stärken, die alten griechischen Philosophen Platon und Aristoteles vertieften die Tugendethik. Platon betonte die Grundlage der Tugenden außerhalb des Menschen (Idee), Aristoteles meinte, Moral müsse dem Menschen einsichtig sein. Philosophen der Stoa hatten eine weit entwickelte Moralvorstellung, hervorzuheben ist Seneca. Von dieser philosophischen Strömung haben Christen viel übernommen.
Doch die breite Masse der Bevölkerung verhielt sich so wie sie wollte. Mächtige Einzelne oder Gruppen hatten das Sagen. Normale Menschen waren anderen ausgeliefert. Entführungen, Kindesaussetzungen, Vergewaltigungen, Selbstjustiz – es kam wie es kam. Und auf einen Menschen mehr oder weniger kam es dann auch nicht mehr an. Von fester Moral war nicht viel zu sehen.
Anders im Judentum. Juden hatten, wenn wir uns auf die Zehn Gebote konzentrieren, eine hohe Moral: Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht den Besitz des Nächsten begehren, nicht rauben, nicht Falsches gegen den Nächsten sagen, Eltern achten – aber auch: An einem Tag nicht arbeiten, was Mensch und Tier schützte. Die hohe Moral der Juden führte dazu, dass sich manche Heiden dem Judentum angliederten, ohne allerdings selbst Juden zu werden.
Der Jude Jesus von Nazareth hat manche dieser Moralvorstellungen verschärft: Nicht den anderen beschimpfen, Frauen nicht begehrlich ansehen, den Nächsten und den Feind lieben, das heißt: ihnen wohltun. Menschen sollen sich auf das Wort, das man sagt, verlassen können, Notleidenden gilt es zu helfen über die Stammesgrenzen hinaus. Diese Moralvorstellungen wurden von Juden und den Heiden aufgegriffen, die Christen genannt wurden.
Die Wissenschaft fragt sich, wie es dazu kam, dass das Christentum so schnell in der damaligen Welt Fuß fassen konnte. Es hat sich nicht mit Gewalt durchgesetzt, sondern war im Grunde eine Religion der Unterschichten und auch der Sklaven. Man geht davon aus, dass es unter anderem die hohe Moral war, die Menschen zum Nachdenken brachte: Bei uns Heiden geht es moralisch drunter und drüber, jeder macht, was er will, erniedrigt und überhebt sich. Man kann sich auf niemanden verlassen, Geschäftspartner nicht auf den anderen, Ehepartner nicht, Reiche leben auf Kosten der Armen, Ausbeutung ist gang und gäbe. Hier kommt auf einmal eine Gruppe daher, die ganz andere Werte und eine ganz andere Moral lebt. Und viele empfanden das für die Gesellschaft und sich selbst als sehr gut.
So langsam hat sich dann im Mittelalter mit vielen Rückschlägen und kleinen Fortschritten diese hohe Moral immer stärker in Europa durchgesetzt. Dazu haben vor allem die Mönche und Klöster beigetragen. Natürlich nicht überall. Wenn in einem Dorf oder in einem Kloster ein übler Mensch das Sagen hatte, dann verlodderte die ganze Gemeinschaft. Aber im Wesentlichen wurde es immer besser.
Diese Moralvorstellungen wurden von Rittern übernommen (Rittertugenden), später von Bürgern (Bürgertugenden). Auch wenn sich immer wieder Individuen anders verhielten, es war doch Konsens, dass diese Verhaltensweisen gut sind für die Gesellschaft.
Im 19. Jahrhundert begann schließlich etwas Neues. Individuen haben sich nicht nur mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen über die christliche Moralvorstellung hinweggesetzt, sondern Menschen traten auf, die diese öffentlich verspottet haben.
Man machte sich über die Moralin gesäuerten Christen lustig, man begann, kuriose Auswüchse als das Normale auf den Podest zu heben, um deren Moral zu karikieren. Nietzsche sprach von der christlichen Sklavenmoral, um ihr seine eigene Moralvorstellung entgegenzusetzen. Es gab andere Lebensentwürfe, die sich von christlicher Moral vollkommen lösten und eben Gegenentwürfe anboten. Diese bestimmten das beginnende 20. Jahrhundert und wurden von großen Weltanschauungen (Nationalsozialismus, Kommunismus) aufgegriffen, aber auch von vielen Intellektuellen.
Nachdem die Menschheits-Katastrophe des Nationalsozialismus in Deutschland vorüber war, besann man sich wieder auf christliche Werte, die Eingang ins Grundgesetz fanden.
Heute stellt sich mir die Situation wieder ein wenig so dar wie Ende des 19. Jahrhunderts: Jeder macht sich seine eigene Moral, weiß aber insgeheim, ganz kantianisch, dass es nicht gut wäre, wenn das jeder so machen würde. Zudem hat der Mensch Sehnsucht nach bestimmten Werten, nach einer Moral, die Sicherheit vermittelt, die Vertrauen zwischen den Menschen stärkt, die Einzelne nicht anderen oder Gruppen ausliefern. Rücksichtnahme, Respekt wünscht man sich. Man möchte nicht von negativen Moralvorstellungen überrannt werden, sondern das, was sich im Laufe der Jahrhunderte mühsam an Gutem durchgesetzt hat, wollen viele nicht aufs Spiel setzen, weil sie ahnen, dass die nachfolgenden Generationen darunter zu leiden hätten.
Wir leben in einer Übergangszeit: Was wird sich durchsetzen? Werden sich die jüdisch-christlichen Moralvorstellungen durchsetzen oder diejenigen, die Gegenentwürfe bieten? Was wird auf längere Sicht die Folge für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft als Ganzes sein? Es ist im Augenblick ein großes soziales Experiment im Gange, Ausgang offen.
Dr. Wolfgang Fenske ist Theologe und Lehrer an der Prälat-Diehl-Schule in Groß-Gerau; wolfgangfenske@aol.com