Musikunterricht – Ein gesellschaftlicher Auftrag?

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Von Dr. Knut Eckhardt
Leiter der Big Band der Prälat-Diehl-Schule; u.stein@onlinehome.de

Wer kennt ihn nicht, den verpflichtenden Musikunterricht an der Blockflöte in der Primarstufe? Hatte er doch zum hehren Ziel, die allgemeine Musiklehre mit ihren Grundlagen des Notenlesens, der Kenntnis über Tonarten und deren vermeintlichen Feinde, die mal als Kreuz, mal als b und, noch heimtückischer, als Auflösezeichen daherkommen, praktisch zu vermitteln und dabei möglichst noch Freude am Musizieren zu befördern. Und wer erinnert sich nicht bei Gesprächen mit Freunden über vergangene Schulzeiten an die „Quälerei“, die weder das Notenlesen nachhaltig gefördert hat noch die Freude am Gehörten über den Verwandtenkreis hinaustrug?

Zugegeben, das Ziel unterschied sich nicht wesentlich von dem heute so populären Musikunterricht in Bläser-, Streicher- oder Gesangsklassen. Ein Grund für den heutigen Erfolg mag in der Tatsache begründet liegen, dass Schülern – übrigens auch denen der Musikschulen – heute Zeit gegeben wird, Instrumente kennenzulernen, auszuprobieren und danach frei zu entscheiden, ob sie daran arbeiten wollen, mit einem dieser Werkzeuge Musik zu machen. Je freier die Entscheidung, desto größer die Erfolgswahrscheinlichkeit – auch wenn sich die Entscheidung mitunter gegen das Elterninteresse richtet, weil sich der Schüler in den Kontrabass oder in die Tuba verliebt hat.

Mit dieser Entscheidung erfährt der junge Mensch, dass er oder sie eine Verpflichtung eingegangen ist – eine Form der Demokratie. Er soll für die Dauer von zwei Jahren – in diesem Alter ein unüberschaubar langer Zeitraum – regelmäßig üben, Konzerte bestreiten, sein Instrument pflegen und vieles mehr. Nun nimmt man Verpflichtungen kaum wahr, wenn sie Spaß machen und man diesen Spaß mit 25 Gleichgesinnten teilen kann, sich Erfolg einstellt, der einen selbst, und nicht nur die Verwandten, stolz macht. Wenigstens 25 Jungen und Mädchen kommen nun zusammen, die dieselbe Entscheidung getroffen haben, und teilen gemeinsam die Erfahrung von Tonproduktion und Wirkung, geben ihr erstes Minikonzert im Quintrahmen und erscheinen in der folgenden Musikstunde mit der Bemerkung: „Ich kann jetzt schon den sechsten Ton!“

Dieser erste Höhepunkt im Musik-Erleben hat keineswegs zum Ziel, die Notenschrift zu beherrschen, sondern Persönlichkeit zu entwickeln. Haben wir nicht alle gemeinsam angefangen, richtig und gut klingend gespielt und den anderen dabei zugehört, auf den Nachbarn aufgepasst, auf- und abgebaut, den Applaus der Zuhörer geerntet und uns gegenseitig auf die Schultern geklopft?  Das machen wir wieder! Seit Beginn der Orientierung des Musikunterrichts am kanadisch-amerikanischen Modell der praktischen Musikausübung vor etwa 15 Jahren wurden in zahlreichen Schulen sogenannte Bläserklassen, im weiteren Verlauf auch Streicherklassen und Chorklassen, mit sehr ähnlichen Erfolgen eingerichtet. Die Prälat-Diehl-Schule war eine der ersten allgemeinbildenden Schulen, die damals Bläserklassen einrichtete und seitdem durchgängig mindestens eine Klasse des Jahrgangs 5 für zwei (G9) bzw. zweieinhalb (G8) Schuljahre mit Orchesterblasinstrumenten ausstattet. Der Erfolg der ersten Jahre beschränkte sich nicht allein auf die Musikausübung und den Musikunterricht, sondern auch auf das gemeinsame Erleben, kurz das, was man als soziales Lernen bezeichnet. In den folgenden Jahren wurden Lerngruppen auch mit Streichinstrumenten versorgt oder mit intensiver Anleitung zur Stimmbildung und zum Chorsingen. Dass diese Maßnahmen mit einem erheblichen Aufwand verbunden waren, soll an dieser Stelle nicht vertieft werden; zu nennen sind lediglich die Ausbildung und das Engagement der Musiklehrer, die Finanzierung mehrerer Klassensätze an Musikinstrumenten (je ca. 20.000 Euro), die nur durch Bürgen innerhalb des Kollegiums und das große Engagement des Fördervereins der Schule möglich war, Vertragsgestaltung mit Versicherern und Eltern usw.

Spätestens hier überschreitet die Tätigkeit den üblichen Rahmen des herkömmlichen Musikunterrichts. Um eine Vernetzung und eine Förderung der Schulen mit diesen Tätigkeiten ins Leben zu rufen, schuf das Kultusministerium das Label „Schule mit Schwerpunkt Musik“, das eine zusätzliche Versorgung mit zwölf Lehrer-Wochenstunden für das Fach Musik garantierte. Kriterien für die Zuteilung dieser Stunden und des Labels waren u.a. ein durchgängiges Angebot in Musik bis zum Abitur, instrumentale oder vokale Ausbildung, außerunterrichtliche Angebote in der Musikpraxis und das regelmäßige Angebot eines Leistungskurses in der Oberstufe. Folglich wuchs und spezialisierte sich das musikalische Angebot von Schulen. Viele Schüler der praktisch musizierenden Klassen in den ersten Jahrgangsstufen betrieben Musik in Arbeitsgemeinschaften und im Wahlunterricht weiter. Daraus entstanden an der Prälat-Diehl-Schule, neben der bereits existierenden Big Band, eine AG für Blasinstrumente, „Brass & Co“, ein Mittelstufenchor und eine Streicher-AG. Im Zusammenwirken wird momentan versucht, ein Schulorchester aufzubauen. Entsprechend bildeten sich Musiklehrer für diese spezifischen Aufgaben weiter.

Die zu Beginn beschworene „normative Kraft des Faktischen“ („Wenn Sie mit der praktischen Ausbildung erst einmal Erfolge erzielen, dann bekommen Sie von allen Seiten Unterstützung“) wirkt allerdings in beide Richtungen. Die Zuteilung der zusätzlichen Lehrerstunden durch das Kultusministerium wurde in den politisch wirkungsvollen Korb einer 105%igen Lehrerversorgung aufgenommen. Diese bedeutete allerdings nicht, dass die Lehrerversorgung großzügig erhöht wurde, sondern dass alle Aktivitäten über die Pflichtstunden hinaus auf maximal 5% beschränkt wurden. Alles, was in Schule zusätzlich finanziert werden musste, z.B. Kurse für kleine Lerngruppen, Angebote in Nicht-Pflichtfächern (Philosophie, Sprachzertifikate etc.), alle Arbeitsgemeinschaften, musste aus diesem 5%-Topf finanziert werden. Eine Diskussion über den Nutzen von Angeboten im Bildungsbereich sollte man ausgerechnet hier nicht führen, denn Schule ist und bleibt zunehmend einer der wenigen Orte, an denen Bildungsangebote nicht ausschließlich nach ihrem Nutzen beurteilt werden. In der Schule gibt es also mehr Zusatzangebote als die praktische Musikausübung, und das sicher mit gleicher Berechtigung. Unter diesen Bedingungen treten alle Zusatzangebote zwangsläufig in gegenseitige Konkurrenz und schüren die Einstellung, dass jedes zusätzliche Engagement ein privates Opfer ist. Das Label der Schwerpunktschulen Musik existiert indes weiter, und die Kriterien werden akribisch mit zusätzlichem Verwaltungsaufwand überprüft.
Pädagogen sind im Sinne des altgriechischen Wortes ho paidagogós, „Menschen, die Kinder führen“ (zu ihren Lehrern, später zur Erkenntnis). Sie werden Kinder auf halbem Wege dorthin nicht von der Hand lassen und sie unbegleitet stehen lassen. Schüler, die zwei Jahre lang geblasen, gestrichen oder gesungen haben und daran Freude entwickelt haben, werden im Jahrgang 7 nicht alleine gelassen, bloß, weil es dafür keine Anrechnungsstunden gibt. Wie aber muss dieses Engagement in ein Kollegium zurückwirken?

Die musikalische Ausbildung und musikpraktische Tätigkeit öffnet Schule nach außen. Schüler, die geschriebene Noten richtig umsetzen können, sind motiviert auch außerhalb der Schule Musik zu machen, in Vereinen und Chören, im Posaunenchor, in der Band mit Gleichaltrigen, und sie werden umworben von eben diesen Ensembles, weil Nachwuchs gebraucht wird. Im Sinne der Wegbegleitung ist dies gut und richtig, weil es Jugendlichen die Möglichkeit eröffnet, ihren Umgang mit Musik, ihr Interesse, ihren Schwerpunkt aus einer Fülle von Angeboten zu finden und langfristig zu pflegen, sowie ihre Erfahrungen mit künstlerischer Pluralität zu machen (auch dies ist ein demokratisches Lernziel).
Musikpraxis in der Schule öffnet Schule nach innen. Allein in der schulischen Praxis werden viele Lehrkräfte gesucht, die den speziellen Anforderungen der Musikausübung gerecht werden. Auf diese Anforderungen reagieren mittlerweile Hochschulen, weil sie Lehramtsstudenten darauf gezielt vorbereiten. Optimismus muss an dieser Stelle aber aus zwei Gründen gedämpft werden. Erstens setzt die Versorgung an den Schulen zeitverzögert ein (praktische Musikklassen gibt es ja seit 15 Jahren!), zweitens ist Musik nach wie vor ein sogenanntes Mangelfach, d.h. es gibt ohnehin zu wenige Musiklehrer, gleich welcher Spezialisierung. Die Prälat-Diehl-Schule beschäftigt neben sechs hauptamtlichen Musiklehrern drei Instrumentalpädagogen, die im Rahmen eines Kooperationsvertrages mit der Städtischen Musikschule Instrumentalunterricht erteilen und/oder Ensembles leiten.
Das Ensemble der ältesten Schüler, die Big Band der Schule, öffnet sich auf diese Weise folglich selbst und gleichzeitig auch die Schule. Jährlich finden Workshops mit Berufsmusikern statt (zumeist Musiker der Big Band des Hessischen Rundfunks), Konzerte und Konzertreisen (z.B. nach Florida/USA) werden mit befreundeten Schüler-Big Bands vorbereitet und durchgeführt, sie nimmt an Wettbewerben teil oder produziert CDs im Tonstudio. Kontakte zur hr-Big Band, zum Landesjugendjazzorchester oder auch zu den Musikhochschulen in Mainz (Studiengang Jazz) und Frankfurt sind eng. Der Übergang zu einem professionellen Umgang mit Musik wird vorbereitet und von den Schülern genutzt.

Praktischer Musikunterricht in der Schule ist gleichermaßen Anspruch-Nehmer und Garant für deren Öffnung. Eine enge Zusammenarbeit mit Vereinen, professionellen Musikern und Ensembles ist unerlässlich für die kontinuierliche Ausbildung der Jugendlichen und eine gesellschaftliche Verankerung von Musikausübung und -erfahrung. Professionelle Orchester tragen in den letzten Jahren diesem Umstand glücklicherweise zunehmend Rechnung, indem sie Schulprojekte anbieten, die es Schülern ermöglichen, Einblicke ins musikalische Berufsleben zu erlangen und eine unverklärte Vorstellung von der Berufsrealität der Musiker zu gewinnen. Das letzte Beispiel hierfür lieferte das Konzert der hr-Big Band zusammen mit der Big Band der Schule in unserer Aula, das im Januar stattfand. Auf diese Weise entsteht ein Netzwerk für die Schule, das es ermöglicht, den Übergang in die Hochschule oder den Beruf reibungsloser und angstärmer zu gestalten als dies durch den praxisärmeren traditionellen Unterricht möglich gewesen ist. Und selbst wenn dieses Musikmachen und -lernen für Schüler zwecklos war, so war es doch extrem sinnvoll.

Erfolg motiviert! Der Erfolg der Schüler motiviert Lehrer. Positive Rückmeldung von Schülern (die nicht selten nach ihrem Abitur zum Musizieren zurück zur Schule kommen), die der Eltern, die Unterstützung des Fördervereins und des Kollegiums, die Einbettung ins musikalische Leben des Umfeldes (Städtische Musikschule, Blasorchester in Büttelborn, Mörfelden, Worfelden oder Leeheim, Posaunenchor der evangelischen Kirchengemeinde etc.) die Förderung durch viele professionelle Musiker und Musikstudenten sind wichtige Bestandteile dieser Kulturförderung. Im Rahmen eines gesellschaftlichen Auftrages wäre auch eine intensive politische Unterstützung zu fordern – jenseits der administrativen Überprüfung längst überholter Kriterienkataloge.

www.praelat-diehl-schule.de

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