Nachdenken über die Zeit

Von Ulf Krone.

„Fassen wir zusammen: Vergesellschaftete Zeit bedeutet die Machtergreifung der Gegenwart, bedeutet, die Vergangenheit speichern, die Zukunft bewirtschaften und über die Gegenwart ein engmaschiges Netzwerk von Zeitregelungen legen. Es erhöht sich der gesellschaftlich erzeugte Zeitdruck. Was aber ist es genau, das da drückt, wenn der Zeitdruck zunimmt? Woher die Beschleunigung?“ (Rüdiger Safranski)

In seinem 2015 erschienenen Werk „Zeit – Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen“ liefert Literaturwissenschaftler und Philosoph Rüdiger Safranski eine kongeniale Abhandlung über die kulturgeschichtliche Entwicklung des Zeitbegriffs, die wissenschaftliche Bedeutung von Zeit sowie deren ökonomische Nutzbarmachung. Und beim Nachdenken über Zeit wird rasch klar, dass es wichtig ist, ein Grundprinzip zu verstehen: Wenn die Zeit gemeinhin als gnadenlos Richtung Zukunft marschierendes Maß von wissenschaftlicher Präzision angesehen wird, dann könnte man nicht weiter danebenliegen.

Mal ganz abgesehen davon, dass wir von Einstein wissen, dass die Uhren von bewegten Körpern anders gehen als die von unbewegten, dass also im direkten Vergleich von zwei Zwillingsbrüdern, von denen einer mit Lichtgeschwindigkeit im All unterwegs und der andere auf der Erde geblieben ist, der auf der Erde bereits an Altersschwäche gestorben wäre, wenn sein nur wenig gealterter Bruder von seinen Weltraumabenteuern zurückkehrte. Jeder kennt das Phänomen, dass die Zeit mal rennt und mal dahinschleicht wie die Schnecke auf dem Salat. „Der Mensch ist, im Unterschied zum Tier, ein Wesen, das sich langweilen kann“, schreibt Safranski und verweist auf Arthur Schopenhauer, der bereits wusste, dass wir die Zeit in der Langeweile erfahren, nicht beim Kurzweiligen. Uhren messen letztlich nur die Position von Ereignissen auf einer von Menschen erschaffenen Skala. Die Zeit ist das Nacheinander von Ereignissen, weshalb eine ereignislose Zeit nicht denkbar ist.

Zeit ist also relativ, zur Masse eines Körpers, seiner Geschwindigkeit und natürlich seinem Gemütszustand. Und seit die Erfindung des Kapitalismus die menschliche Fantasie in Sachen Geschäftemacherei vollends entfesselt hat, ist Zeit auch ökonomisch nutzbar gemacht worden. Die Uhr-Zeiten in Ländern und später auf ganzen Kontinenten wurden synchronisiert und aufeinander abgestimmt. Nur so konnte es etwa verlässliche Fahrpläne für Züge geben in Gesellschaften, in den das Verreisen in andere Regionen oder Länder immer normaler wurde. Warenströme konnten synchronisiert und dadurch effizienter gestaltet werden, Arbeits- und Tagesabläufe. Immer effektiver, immer enger getaktet!

„Die Uhr ist die eine Institution zur Vergesellschaftung der Zeit, die andere ist das Geld“, attestiert Safranski und führt aus, dass Geld den Zeithorizont nach beiden Seiten öffnet, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Zum einen verweist es auf bereits geleistete Arbeit, für die man es bekommen hat, zum anderen auf Dinge, die man damit in der Zukunft kaufen kann. Und die moderne Telekommunikation führte sowohl zu einer großangelegten Virtualisierung von Kapital als auch zu einer absoluten Gleichzeitigkeit von allen Punkten auf dieser Erde. So wurden virtuelle Wetten auf die Zeit, etwa auf die Entwicklung von Nahrungsmittelpreisen, Immobilienpreisen oder durch Aktien auf die Entwicklung eines Unternehmens möglich. Und natürlich, dass wir diesem Zeitdruck derart ausgeliefert zu sein scheinen, dass er uns krank machen kann.

Aber wir sollten bedenken, dass die allgemeine öffentliche Definition von Zeit – genauso wie das Geld – bloß eine normative Erfindung des Menschen ist. Das System funktioniert nur, solange wir beidem diesen Wert zugestehen. Ausbrüche sind erlaubt!

 


Ulf Krone
ist Redakteur beim WIR-Magazin und studierter Philosoph;
ulf.krone@wir-in-gg.de

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