Neues Schuljahr, neue Aufgaben

Von Ulf Krone.

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in Politik, Medien und der Bevölkerung darüber diskutiert wird, was Schule in Deutschland zu leisten habe, von individueller Förderung über Integration bis zur Inklusion. Lehrer sollen heutzutage nicht mehr bloß Lehrer, sondern gleichzeitig auch Sozialarbeiter, Psychologen und Polizisten sein. Besonders zu spüren bekommen die stetig wachsenden Anforderungen die Integrierten Gesamtschulen, an denen alle Schultypen zusammenkommen. Wir haben bei Philipp Stannarius, Schulleiter der Martin-Buber-Schule in Groß-Gerau, nachgefragt, wie man diese vielfältigen Aspekte der Schularbeit unter einen Hut bekommt.

Ein neues Schuljahr beginnt, und die Aufgaben, die die Schulen übernehmen sollen, wachsen kontinuierlich an. Integration, Inklusion, eine möglichst individuelle Förderung der schwächeren Schüler sowie die der Talente, Vorbereitung auf den Berufsalltag und die digitalisierte Welt – all das und noch viel mehr sollen die Schulen heute übernehmen. Doch die Fachkräfte dafür werden knapp. Wie sieht es diesbezüglich an der Martin-Buber-Schule aus?

Philipp Stannarius: Noch ist es uns möglich, genügend gut qualifizierte Lehrkräfte zu gewinnen, da wir als Integrierte Gesamtschule sowohl Gymnasial- als auch Haupt- und Realschullehrer einstellen. Fachkräftemangel besteht dennoch in einzelnen Fächern wie Kunst und Musik. Außerdem fehlen Lehrkräfte, die speziell für das Fach „Arbeitslehre“ mit handwerklich-technischem Schwerpunkt ausgebildet werden. Es ist bedauerlich, dass dieser Studiengang an den Universitäten der Region nicht angeboten wird. Auch für den Bereich der Informatik gibt es noch zu wenige Bewerber mit einem Lehramtsstudium. Bei Lücken in den genannten Bereichen setzen wir Lehrkräfte ein, die aufgrund von Interesse, Erfahrung und in- und externer Fortbildung qualifizierten Unterricht anbieten können.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Schule in der Zukunft, und wie bereiten Sie sich darauf vor?

Philipp Stannarius: Die Schulen in Deutschland haben je nach Altersgruppe und Schulform unterschiedliche Herausforderungen zu bewältigen. Ein übergreifendes Thema ist die Digitalisierung der Gesellschaft, sowohl in der Arbeitswelt als auch in sozialen Netzwerken. Die technische Aufrüstung erfordert hohe finanzielle Mittel. Am Beispiel unserer Schule wird dies deutlich. Die Unterrichtsräume an der Martin-Buber-Schule sind ungefähr zu einem Drittel mit interaktiven Tafeln ausgerüstet. Aus unserem Finanzhaushalt erweitern wir jährlich um zwei bis drei dieser Smartboards. Mehr Geld steht nicht zur Verfügung. In diesem Tempo benötigen wir mindestens 15 Jahre, um die Schule zeitgemäß auszustatten. Breitbandausbau, WLAN und notwendiger Support vor Ort kämen hinzu. Letztlich hinken die Schulen der fortschreitenden technischen Entwicklung immer hinterher. Dieser Umstand bremst sowohl die Nutzung interaktiver Lehr- und Lernformen in größerem Umfang, erschwert aber auch die Übung im Umgang mit den neuen medialen Möglichkeiten. Im pädagogischen Bereich bestehen für uns als große Integrierte Gesamtschule die entscheidenden Herausforderungen in unserem selbst gesteckten Anspruch, auch in Zukunft eine „Schule des offenen Weges“ zu sein. Dies bedeutet, für die gesamte Bandbreite der Schülerjahrgänge maßgeschneiderte Angebote vorzuhalten. Vom passenden Angebot für Schüler, die das Abitur anstreben, derzeit ca. 50%, bis zu denjenigen, die als Förderschüler einen praxisorientierten Abschluss erreichen wollen, oder denjenigen, die erstmals in einer deutschen Schule unterrichtet werden

Haben sich die Ziele geändert?

Philipp Stannarius: Unser ambitioniertes Ziel bleibt bestehen, individuell auf den Lern- und Leistungsstand jedes Kindes, jedes Jugendlichen einzugehen und gleichzeitig hohe Anforderungen zu stellen, um unsere Schüler in ihrer Entwicklung voranzubringen. Daran arbeiten wir bereits seit mehreren Jahren beständig und erfolgreich. Dennoch bleibt dies auch künftig die wesentliche pädagogische Herausforderung unserer Schulform.
Auch in diesem Bereich fehlen zurzeit wichtige sächliche, personelle und finanzielle Rahmenbedingungen, beispielsweise zusätzliche Team- und Differenzierungsräume, Lernassistenten für Übungsphasen und mehr Beratungszeit für Lehrer für Lernentwicklungsgespräche mit Schülern und Eltern. Aus gesellschaftlichen und schulorganisatorischen Gründen unabdingbar ist die Erweiterung der Schulen im Nachmittagsbereich. Neben der Betreuungsfrage jüngerer Schüler benötigt die Beratung und die Förderung Zeit, die nicht zusätzlich in die bisherigen Strukturen gepackt werden kann.

Immer wieder entsteht in öffentlichen Debatten der Eindruck, dass gesellschaftliche Lasten beinahe reflexhaft den Schulen – und dort insbesondere den Gesamtschulen – zugeschoben werden, während sich die Politik in der Diskussion um die Verantwortung dafür innerhalb des föderalen Systems ergeht. Wie sehen Ihre Wünsche hinsichtlich unterstützender Maßnahmen bei der Bewältigung dieser Aufgaben aus?

Philipp Stannarius: Ich kann Ihre Einschätzung bestätigen. Wir erleben, dass politische Zielsetzungen formuliert werden, daraufhin in der Elternschaft entsprechende Erwartungen geweckt werden, deren Einlösung allerdings erst mittelfristig möglich ist. Die Debatte um die Inklusion an unseren Schulen zähle ich als prominentes Beispiel dazu. Wir sind derzeit noch nicht hinreichend in der Lage, dem Anspruch auf besondere Förderung in dem Umfang nachzukommen, wie er mit dem Blick auf das jeweilige Förderkind benötigt wird. Uns fehlen Förderschullehrkräfte zur professionellen Unterstützung der Kinder, und längst nicht alle Lehrer der allgemeinbildenden Schulen haben in Ihrer Ausbildung Instrumente der Diagnostik und individuellen Förderung kennengelernt. Diese Entwicklung braucht Zeit und ausgebildete Lehrer, aber auch zusätzliche zeitliche Ressourcen zur Kommunikation in den neuen Teams. Meines Erachtens ist es dringend geboten, die ausufernde Wochenbelastung der Lehrkräfte über die Frage der Lehrerarbeitszeit, ggfs. mit Präsenzpflicht, neu zu definieren. Lehrkräfte benötigen ein Zeitkontingent für Unterricht mit Vor- und Nachbereitung, sie benötigen ausgewiesene Zeit für Beratung von Eltern und Schülern und ebenso Zeit für festgelegte innerschulische Kommunikation. Dieser notwendigen Diskussion sollten sich weder die Politiker noch die Lehrerverbände verweigern.

Für das zweite große öffentliche Thema, die Integration von Seiteneinsteigern ohne deutsche Sprachkenntnisse ins deutsche Schulsystem, wird in Hessen viel getan. Außerdem haben wir an dieser Stelle gut bewährte innerschulische Konzepte. Wegen des Alters der Neuankömmlinge bleibt uns leider manchmal einfach zu wenig Zeit, um sie angemessen zu integrieren und zu einem Schulabschluss zu führen.

Die Arbeit an unseren Schulen wird stetig intensiver, fordernder und stressiger. Woraus ziehen Sie die Motivation, sich den weiter anwachsenden Aufgaben als Schulleiter zu stellen?

Philipp Stannarius: Schule ist stets spannend und herausfordernd, aber auch erfüllend. Ich erlebe sehr viel Wertschätzung für unsere Erziehungsarbeit und freue mich über die kleinen und großen persönlichen Erfolge unserer Schülerinnen und Schüler. Auch unsere Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich bestätigt, wenn ihre Anstrengungen und gute pädagogische Arbeit von Kindern, Eltern und der Öffentlichkeit anerkannt wird. Eine schöne Bestätigung hierfür sind die dauerhaft hohen Anmeldezahlen an unserer Schule. Kein Tag gleicht dem anderen. Die Arbeit mit Heranwachsenden bleibt immer unmittelbar, von Angesicht zu Angesicht. Zwischen Klasse und Lehrer entstehen zum Teil sehr enge Bindungen, und der Abschied nach fünf oder sechs Jahren ist oft tränenreich. Kollegium und Schulleitungsteam arbeiten ausgezeichnet zusammen. Klare Arbeitsstrukturen und Übertragung von Verantwortung entlasten auch mich im Alltag. An der Martin-Buber-Schule herrscht eine gute Arbeitsatmosphäre, die besonders in Stresszeiten trägt. Anders ließe sich eine Schule mit fast 100 Lehrkräften und über 30 weiteren Beschäftigten nicht erfolgreich führen.

Wir alle erleben den schnellen Wandel in unserer Gesellschaft, vor allem in der Arbeitswelt, aber auch in den Familien und in der Erziehungshaltung. Die Schule weiterzuentwickeln ist deshalb ein permanenter Prozess. Persönlich schöpfe ich Motivation aus der Gewissheit, unsere werteorientierte Erziehung zu bewahren, den Schülern zugewandt zu begegnen und ihnen anspruchsvolle Lernarrangements zu bieten.

 

Martin-Buber-Schule: Integrierte Gesamtschule des Kreises Groß-Gerau mit Ganztagesangebot
Schüleranzahl 2017/18: 1148

Anzahl der Lehrkräfte: 92
zwei Schulsozialarbeiter, eine Sozialpädagogin, sechs Lehrkräfte der regionalen Beratungs- und Förderungszentren, zwei Mitarbeiter im Bereich Administration Ganztag und Bücherei, 30 Honorarkräfte im Ganztagesbereich

Klassenanzahl: 45
zwei Intensivklassen für Seiteneinsteiger, eine Klasse „Praxis und Schule“

Zusatzangebote:
Inklusive Beschulung; Schulassistenten

Wilhelm-Seipp-Str. 1, 64521 Groß-Gerau
Tel.: 06152-98110, Fax: 06152-981131
mbsverwaltung@martin-buber.itis-gg.de
www.mbs-gg.de

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