Unsere Demokratie – unser Alltag im Jahr 2030?
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von W. Christian Schmitt
Am 14. April setzt die Volksbank in ihrem Veranstaltungsraum in der Kreisstadt (Am Sandböhl 5-15, Eingang Schulstraße) die Veranstaltungsreihe „Gerauer Dialog“ fort (siehe auch „Ausgehtipp“ auf der Seite 36). Diesmal geht es um das Thema „Unsere Demokratie – unser Alltag im Jahr 2030?“. Teilnehmer der Runde sind die Entscheidungsträger Ismail Özdogan (Vorsitzender des Vereins „Generation X – gelebte Integration“ sowie des SV Klein-Gerau), Ludwig Boßler (Chef von Edeka-Boßler sowie Vorsitzender des Nauheimer Gewerbevereins) und Carsten Sittmann (Bürgermeister der Gemeinde Trebur). Die jeweiligen Gesprächspartner sind Heidi Förster (freie Journalistin und Pressereferentin des Ev. Dekanats Groß-Gerau), Wolfgang Bassenauer (Herausgeber des „Gerauer Rundblicks“) und W. Christian Schmitt (Herausgeber des WIR-Magazins). Alle Beteiligten haben wir im Vorfeld der Veranstaltung um ein Statement zum vorgegebenen Thema gebeten.
Die Zukunft verläuft nicht linear
Wolfgang Bassenauer ist Verleger und Geschäftsführer beim VBG Verlag;
w.bassenauer@vbgverlag.de
Bis zum Jahr 2030 sind es gerade noch 13 Jahre, 8 Monate und ein paar Tage. Ein überschaubarer Zeitraum, sollte man meinen. Und dennoch: Die vergangenen Jahre und Jahrzehnte haben uns gezeigt, wie schnell sich gesellschaftliche Veränderungen vollziehen, politische Umbrüche stattfinden, unsere geografische Lage plötzlich unter einen völlig neuen, internationalen Blickwinkel gerät, unsere Lebensräume, unsere Arbeitswelt, unser Alltag von Entwicklungen geprägt werden, die wir kaum für möglich gehalten hätten und auch unsere, zum Teil stark fokussierte Sichtweise eine bis dato unvorstellbare Wendung verlangt – ob wir das wollen oder nicht! Die Zukunft verläuft nicht in einem linearen, kontinuierlichen Strahl, sondern in einer sich beschleunigenden exponentiellen Kurve.
Niemandem ist die Gabe der Prophetie in die Wiege gelegt worden. Deshalb gilt der Blick in die Zukunft als schwierig, deshalb kann es zu dem fragenden Thema im Gerauer Dialog ,,Unsere Demokratie – unser Alltag im Jahr 2030?“ keine tatsächliche Antwort geben. Es wäre aber auch falsch, darin nur den kläglichen Versuch zu sehen, im Kaffeesatz zu lesen. Gewiss, das Thema verlangt einen vorausschauenden Blick auf das, was kommen mag, was uns die nächsten Jahre einerseits bringen werden, was wir andererseits aber auch verlieren können. Werden wir unsere demokratisch verbriefte Grundordnung aufrechterhalten können; werden wir unsere persönliche Freiheit bewahren; werden wir in der Lage sein, unseren Wohlstand und unsere Lebensqualität zu sichern; wie wird sich das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Kulturen und anderen Religionen auswirken; wie gehen nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit dem Schutz von Klima und Umwelt zusammen, und wie wirkt sich das auf den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft aus; helfen uns technische Innovationen, die fortschreitende Digitalisierung oder das Internet bei der Lösung der bevorstehenden Aufgaben und Herausforderungen? Oder bergen die sogenannten Sozialen Netze, Big Data, Industrie 4.0 oder der Geldverkehr rund um den Globus Gefahren, die viel größer sind, als unsere heutige Vorstellungskraft erahnen lässt? Und nicht zuletzt: welche Bildungsvoraussetzungen müssen wir für die Zukunft schaffen? Drängende Fragen also, die vermutlich nur mit den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft beantwortet werden können: Freiheit, Wettbewerb, Verantwortung, Haftung und soziale Gerechtigkeit geben die Richtung vor. Im Gerauer Dialog wollen wir uns aus verschiedenen Perspektiven diesem breiten Themenkomplex nähern.
Der Handel wird sich vielfach verändern
Ludwig Boßler ist Vorsitzender des Gewerbevereins Nauheim;
info@e-bossler.de
Im Zuge des demographischen Wandels werden unsere Kunden – wie wir selbst auch – immer älter. Der Heimbringservice wird daher vermutlich stärker genutzt werden, und auch das Gesundheitsbewusstsein wird weiter steigen. Die Sortimentsauswahl wird noch vielfältiger, die Globalisierung macht es möglich. Und die Technik zum Bezahlen ist dann vielleicht schon komplett bargeldlos. Besonders wichtig wird jedoch nach wie vor die Tatsache sein, dass der Kunde im Mittelpunkt unseres Handelns steht. Das ist und wird immer der Schlüssel des Erfolges sein. Daher ist ausreichend geschultes und freundliches Personal umso wichtiger. Denn der Kunde möchte die Einkaufsstätte als Erlebnis haben.
Das Grundgesetz steht über Koran und Bibel
Ismail Özdogan ist Gemeindevertreter und Vorsitzender des SV Klein-Gerau;
ismail@oezdogan.net
In den freiheitlichen und humanistischen Werten sehen wir die Verbindung zwischen allen Kulturen. Nur wenn der bestehende und neu hinzugekommene Teil der Gesellschaft diese akzeptiert und verinnerlicht, wird ein dauerhaft friedliches Zusammenleben auch im Jahr 2030 möglich sein. Viele Flüchtlinge kommen gerade wegen dieser Werte, der Demokratie, dem liberalen Rechtsstaat und der Marktwirtschaft nach Europa. Andere wiederum sind fest in Traditionen und Riten verfangen, die sich damit nicht vereinbaren lassen. Ein friedliches Zusammenleben erreichen wir nicht, indem wir die Neuankömmlinge mit all ihren Sorgen ignorieren und auch nicht, indem wir sie und alles, was sie mit sich bringen, kulturrelativistisch gutheißen und nicht zu kritisieren wagen. Unter diesen Voraussetzungen wird Deutschland durch die jetzige Zuwanderung in 15 Jahren ein stärkeres Land sein als heute. Auch halte ich es unter diesen Voraussetzungen für möglich und wünschenswert, dass eine Muslima als deutsche Kanzlerin im Jahr 2030 die Bundesrepublik regieren wird. Natürlich ist dafür eine starke und engagierte Integrationspolitik nötig.
Was wird sein im Jahre 2030?
Heidi Förster ist Journalistin und Öffentlichkeitsbeauftragte des Ev. Dekanats Groß-Gerau;
heidi.foerster@t-online.de
Wenn meine Generation der „Babyboomer“ ins Rentenalter kommt? Die Bevölkerung schrumpft, Kinder werden fehlen, Alte werden die Mehrheit bilden. Das Durchschnittsalter wird deutlich steigen. Immer weniger Erwerbsfähige werden für den sozialen Wohlstand von immer mehr Empfängern staatlicher Leistungen arbeiten müssen. Der Staat wird wesentliche Teile seines Budgets zur Versorgung und Pflege der Alten aufwenden müssen, denn gegenüber heute werden 600.000 weniger Kinder und Jugendliche in Deutschland leben. Außerdem wird es vor allem in der Fläche an Fachkräften, Ärzten, Pfarrern, Schülern und Lehrern mangeln. Diese demografischen Fakten können wir überall lesen. Studien belegen, dass es nur ein einziges familienpolitisches Instrument gibt, welches messbar zu mehr Kindern und damit auch zu weniger Altersarmut führt: Eine bessere Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur mit mehr Kita-Plätzen und mehr Ganztagsschulen!
Und es wird höchste Zeit, Zuwanderer und Flüchtlinge, die in unser Land kommen, als Chance zu begreifen. Deren Integration in unsere Gesellschaft ist eine Leistung, die wir alle vollbringen müssen. Ehrenamtliche, Kommunen, Sozialverbände und Kirchen leisten hier bereits Gewaltiges, spenden Kleidung, Spielsachen oder Schulbücher, sind Paten und Ratgeber.
Es braucht in Zukunft mutige Bürgerinnen und Bürger, Politikerinnen und Politiker, Bürgermeister/innen, fleißige Ärzte, begeisterte Lehrer und soziale Freiwillige. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Sozialverbände stehen vor gewaltigen Herausforderungen! Schließlich geht es darum, Frieden und Wohlstand für alle zu sichern.
Unsere Demokratie – unser Alltag 2030?
Carsten Sittmann ist Bürgermeister in Trebur;
carsten.sittmann@trebur.de
Um einen möglichst realistischen Blick in die Zukunft richten zu können, ist es wichtig, dass wir uns mit den Bedürfnissen und den anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen beschäftigen. Auch gilt es, die vergangenen Jahre ab dem Jahr 2000 rückwirkend zu beleuchten: Was hat sich seit der Jahrtausendwende in unserer Gesellschaft verändert? Es ist festzustellen, dass sich in den vergangenen Jahren eine zunehmende Digitalisierung abgezeichnet hat. Ich gehe davon aus, dass sich dieser Trend, verbunden mit einem Bedarf an intelligenten Systemen, bis 2030 und darüber hinaus fortsetzen wird. So werden intelligente Stromnetzsteuerung, neue Systeme im Straßenverkehr, Gesundheitsüberwachung durch Systeme, die am Handgelenk getragen werden, Haushaltsgeräte, die sich aus der Ferne steuern lassen, bald zum Alltag gehören.
Ich wünsche mir, dass sich die Bürgerinnen und Bürger weiterhin aktiv beteiligen werden. Politisches Engagement wird dabei weniger in politischen Parteien, sondern themenbezogen in Bürgerinitiativen ausgeübt. Auch das Thema „Bürgerbeteiligung“ wird immer wichtiger. Die Entwicklung hin zu Bürgerhaushalten, digitaler Bürgerbeteiligung in Internetforen und Online-Übertragungen von öffentlichen Sitzungen städtischer und gemeindlicher Gremien ist bereits jetzt vielerorts Beratungsgegenstand.
Soziale Netzwerke wie „Facebook“ und „Twitter“ werden bereits heute als neue Kommunikationsformen in Anspruch genommen. 2030 wird dies sicher noch selbstverständlicher sein. Doch Kommunikation durch das persönliche „Vier-Augen-Gespräch“ ist nicht zu ersetzen. Finstere Zukunftsvisionen für das Jahr 2030 sind Altersarmut und eine Zunahme der Gewaltbereitschaft. Damit dies nicht Realität wird, müssen wir heute Weichen stellen, um dem entgegenzuwirken.
Gedanken zu unser aller Zukunft im Jahr 2030
W. Christian Schmitt ist Herausgeber des WIR-Magazins;
wcschmitt@wir-in-gg.de
1988 erschien im Morstadt-Verlag das Buch „Selbstbedienungsladen BRD?“, das ich ursprünglich unter dem Titel „Unser aller Leben im Jahr 2000“ geplant hatte. Ein Dokumentations- und Interviewband, in dem nicht nur 23 Mitbürger ihre Wünsche, Hoffnungen wie Zukunfts-Ängste zu Protokoll gaben, sondern womit auch der journalistische Versuch unternommen wurde, „Volkes Meinung“ zu ergründen und zu beschreiben. Wenn ich mir heute, fast 30 Jahre später, vor Augen führe, was damals die Menschen beschäftigte, so finde ich zahlreiche Parallelen zur jetzigen Situation in diesem Land. Da lese ich Beiträge, die Ereignisse aus den 80er Jahren beschreiben mit Überschriften wie z.B. „Es gibt immer weniger Deutsche“, „Fernsehen wird immer brutaler“, „Asylanten kommen von heute auf morgen“, „Kommunen müssen weiter für Flüchtlinge sorgen“, „Steine auf Senatoren-Haus“ etc. Und wie wird unsere Demokratie, unser Alltag im Jahr 2030 auf lokaler Ebene aussehen? Wird vieles so bleiben, wie es ist? Wird es viel länger dauern, bis wir gesellschaftliche Umbrüche wahrnehmen? Wird „die Aufregung“ darüber weitaus geringer ausfallen, als viele dies heute prognostizieren? Ich erinnere mich an Orwells „1984“, die damit verbundenen Ängste vor „Big Brother“ – und dass manches vielerorts noch erheblich schlimmer kommen würde. Doch wie müßte Orwell uns heute vor dem nahenden Jahr 2030 warnen?
https://www.volksbanking.de/wir-fuer-sie/aktuelles-regionales/veranstaltungen/gerauer-dialog.html