Verblendungen – der Opel-Flakturm

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Geschichten und Gedichte aus Rüsselsheim am Main
Mit freundlicher Genehmigung von Herausgeber und Autor veröffentlichen wir eine Leseprobe aus dem Rüsselsheimer Hessentagsbuch 2017, das jetzt offiziell vorgestellt wurde. Verfasser des Textes ist WIR-Kolumnist Pierre Dietz, Autor, Maler und Filmemacher aus Nauheim; dietz@pierre-dietz.de

 

Verblendungen – der Opel-Flakturm
Nach einer wahren Begebenheit. Personen und Handlungen sind frei erfunden. Danke an Anni Dietz, Hansbernhard Dietz, Dr. Martin Fenske und Hans Eberhard Jürgens.

Sommer 1944. Der gerade sechzehn Jahre alt gewordene Münsteraner Werner Barbareit wird an seinem letzten Schultag mit drei weiteren Klassenkameraden zum Heimatschutz abkommandiert. Er findet die Schule dröge und will endlich seinen Beitrag für das Vaterland leisten. Er fährt mit dem Zug nach Mühlheim an der Ruhr. In der Wolfsburg, Sitz der Verwaltung der 4. Flak-Division, erhält er eine Uniform und einen Marschbefehl nach Mainz.
Die Zugfahrt scheint ihm eine Ewigkeit zu dauern. Aus nicht ersichtlichen Gründen muss der Zug ständig außerhalb von Ortschaften anhalten. Gelegentlich fährt er rückwärts. Erst in der Nacht geht es schneller voran. Werner sieht in der Ferne Bomben in einer Stadt detonieren. Die Häuser fangen Feuer. Der Schein spiegelt sich in einem breiten Fluss. Ihm laufen die Tränen. „Was heulst du wie eine Memme?“, schnauzt ihn sein Kamerad Volker Arians an.
„Dort sterben unsere Mütter und Schwestern!“
„Sie leisten ihren Beitrag für das Großdeutsche Reich! Wir bringen alle Opfer und sehen dem Tod tapfer in die Augen!“
„Bist du bereit für den Führer in den Tod zu gehen?“
„Jederzeit! Ich kann es nicht erwarten, dem Feind endlich eine auszuwischen!“
„Mein Bruder …“, bei dem Gedanken an ihn bleibt Werner ein Kloß im Hals stecken.
„Was ist mit deinem Bruder?“
„Stalingrad.“
„Verstehe! Gratuliere! Dein Bruder ist ein Held!“
„Mein Bruder fiel in der Normandie!“, mischt sich Horst Kleinschmitt ein. „Carentin, sechstes Fallschirmjägerregiment.“
„Mein Vater hat es am 17. April 1941 in Kozani erwischt“, steuert Hans Silensen bei, der die ganze Reise geschwiegen hatte. „Ein griechischer Kommunist hat ihm aus dem Hinterhalt in den Rücken geschossen.“
„Wir haben eines gemeinsam!“, schließt Volker Arians daraus. „Unsere Familien sind das Rückgrat unseres Volkes! Und wir leisten unseren Beitrag! Wir verteidigen die Heimat – unsere Soldaten kämpfen mit freiem Rücken an der Front!“
In Mainz teilt die Kommandantur die Kindersoldaten dem 189. Flak-Regiment zu. Ihr Acht-Acht-Geschütz steht auf einem Flakturm des H32-Gebäudes der Automobilfabrik Adam Opel in Rüsselsheim. Die Kanone ist in neuwertigem Zustand. In mittlerem Grau gestrichen steht das Modell Flak 36 der Firma Krupp auf einem fest verschraubten Drehkranz montiert. Kurz vor der Rohrmündung sind zwei weiße Ringe aufgemalt.
„Was bedeuten diese Ringe?“, will Werner wissen.
„Dir entgeht so schnell wohl nichts, junger Mann!“, grinst ein alter Mann. „Aufmerksamkeit ist bei uns von der Fliegerabwehr eine der wichtigsten Tugenden. Jeder dieser Ringe steht für einen Abschuss.“
„Erst zwei Flugzeuge des Gegners? Die Kanone ist wohl nagelneu!“
„Bisher sind wir in Rüsselsheim von Angriffen relativ verschont geblieben. Zudem erfordert es im Schnitt mehr als zehntausend Schuss, um nur einen Bomber vom Himmel zu holen. Stellt es euch nicht zu einfach vor! Zumal wir selbst Ziel der Angreifer sind!“
„Ich bin kurz davor zu kotzen!“, sagt Volker Arians vorlaut. „Ich will an die Front! Ich will meinen Heldenmut beweisen! Dieser Einsatz ist für den Kindergarten!“
„Mal langsam, junger Mann! Ich bin Veteran des ersten Weltkriegs! Am Chemin des Dames sind mir die Granaten nur so um die Ohren geflogen! Da lobe ich mir diesen ruhigen Flecken Erde.“
„Hättet ihr damals mehr Mumm in den Knochen gehabt, hättet ihr uns diesen Krieg erspart! Und Deutschland wäre bereits die Weltmacht!“
„Was haben die Lehrer euch nur für einen Mist in der Schule beigebracht?“
„Das grenzt an Wehrkraftzersetzung, was Sie da sagen!“
Die Miene des alten Mannes nimmt einen ernsten und düsteren Zug an.
„So? Und jetzt mal alle stillgestanden! Mein Name ist Franz Paralmaier. Ich bin der K Neun und somit euer Geschützführer. Von dir Naseweis erwarte ich aufopferungsvolle Pflege der Kanone. Finde ich einen Fleck oder gar einen Kratzer, werde ich dich hart bestrafen. Damit du deinem Vaterland besser dienen kannst, mach ich dich zum K Vier. Als Munitionskanonier wirst du die Munition vom Aufzug bis zur Ladevorrichtung tragen. Damit du dich an deine Aufgabe gewöhnst, wirst du die nächsten zwei Stunden mit einer Granate auf den Schultern rund um die Kanone wetzen.“
Paralmaier beaufsichtigt kurz den Beginn der Ausführung seines Befehls und wendet sich an die verbliebenen Neuankömmlinge.
„Barbareit, Ausbildung zum K Eins – Höhenrichtkanonier. Kleinschmitt, K Zwei – Seitenrichtkanonier – und Silensen, K Drei – Ladekanonier. Prägt euch diese Bezeichnungen ein! Ich werde niemanden beim Namen nennen! K Sechs, übernehmen Sie!“
Der Alte geht zur Treppe. Ein letzter, düsterer Blick auf den K Vier und er geht nach unten.
„Ich habe den Alten noch nie derart aufgebracht gesehen!“, schüttelt Harry Weber seinen Kopf. „Ich teile euch erst einmal zur Luftbeobachtung ein. Dort in den Kästen befinden sich Ferngläser. Je zwei von euch suchen immer abwechselnd, einer nach Westen, der andere nach Osten, den Himmel nach verdächtigen Objekten ab. Bei Alarm nimmt sich ein jeder ein Fernglas!“
Zwei weitere „Altgediente“, dem Aussehen nach ebenfalls Weltkriegsveteranen, die zuvor die Ausführungen des Alten wortlos beobachtet hatten, näherten sich dem K Sechs.
„K Sieben und K Acht melden sich ab!“
„Ist in Ordnung, Kameraden! Ich habe alles im Griff.“
Der K Sechs erklärt den Neuankömmlingen die Regeln und die Dienstzeiten. Immer drei haben eine Freischicht von acht Stunden zum Ruhen, für die Versorgung mit Proviant und der Erledigung sonstiger Besorgungen. Bei Alarm haben sich alle schnellstmöglich bei der Kanone zu melden. Der Hochsommer kommt. Die Hitze auf dem Dach ist besonders in der Mittagszeit unerträglich. Die Luft flirrt. Die Sonne scheint so hell und erschwert die Luftbeobachtung. Unten im Ort ist niemand mehr auf den Straßen. Die Fensterläden sind geschlossen. Der Lärm aus der Fabrik klingt dumpf und fern. Alarm! Die Sirene heult auf und ab. Der Alte stürmt die Treppe rauf.
„Helme auf! Alle Mann auf Gefechtsstation!“
Schnell entfernen die jungen Kanoniere die Lederabdeckungen im Bereich der Steuerung der Kanone. Eine Granate verschwindet im Schloss, eine zweite liegt auf der Nachladevorrichtung. Die Richtkanoniere drehen die Räder bis das Rohr in den Himmel ragt. Entwarnung. Alles wird wieder in Anfangsposition gebracht.
Der Alte ordnet die Wartung der Kanone an. Mit Fettpressen füllen die Kanoniere die Schmiernippel nach. Im Anschluss erfolgt ein umfangreicher Funktionstest.
In der Nacht kühlt die Luft nur unmerklich ab. Der Beton ist heiß. Dank der Verdunklung ist es stockfinstere Nacht. Nur die Sterne… Alarm! Schlaftrunken kommt der Alte die Treppe rauf. In der Umgebung werden Suchscheinwerfer eingeschaltet. Diese gleiten ergebnislos durch den wolkenlosen Himmel. Entwarnung.
„Das darf nicht wahr sein – oder?“, flucht Volker Arians vor sich hin.
„Feindliche Verbände sind in den Raum Koblenz eingedrungen. Sie sind ohne Lastenabwurf Richtung Berlin weitergeflogen. Erhöhte Wachsamkeit ist befohlen! Alle bleiben auf ihren Posten!“
Die Nacht schiebt sich dahin, wie das von Öl verseuchte Wasser des Mains. Unerträgliche Stille. Der Morgen beginnt zu grauen. Motorengeräusch. Ein Tiefflieger aus Richtung Frankfurt. Flakfeuer über Kelsterbach. „Alarm! Das ist ein Amerikaner!“
Eine P-51 Mustang ist im Anflug auf das Opel-Werk. Die Kanone beginnt zu feuern. Der erste Schuss geht viel zu hoch, ein zweiter auch. Ein dritter zu weit nach rechts. Der Flieger hat sich zur Seite geneigt und versucht von der linken Seite anzugreifen. Ein vierter Schuss geht zu weit links. Der fünfte verfehlt das Flugzeug nur knapp, zwingt den Angreifer zum Abdrehen. Nervös klinkt dieser seine Bomben aus. In einem nahegelegenen Garten detonieren die mit Sirenen ausgestatteten Sprengkörper. Die Druckwellen sind bis zum Turm zu spüren. Fensterscheiben zerbersten und Ziegel fallen vom Dach. Schwenk der Kanone um hundertachtzig Grad. Der Flieger ist bereits außer Reichweite.
„Das ist knapp gewesen!“, japst der Alte. „Das ist Ihre Schuld!“, schreit Werner Barbareit. „Warum haben Sie so lange gezögert?“
„Wir hätten das Schwein vom Himmel geholt!“, stimmt ihm Volker Arians zu.
„Ein anfliegendes Flugzeug ist nicht sofort als feindlich zu erkennen! Willst du unsere Jungs abknallen? Wir hatten keinen Alarm!“
Hans Silens übergibt sich in den Munitionsschacht.
Die Bewohner des um Haaresbreite getroffenen Hauses strömen in den vernichteten Garten. Eine Frau schreit. Ihr Hasenstall ist weg. Das Geschrei weckt die jungen Kerle, die zwischendurch eingeschlafen sind.
Werner nutzt seine Freischicht, um einen Brief nach Hause zu schicken. Seinen Eltern berichtet er von einem Abschuss. Sie sollen denken, er würde einen Beitrag zur Verteidigung des Reiches leisten, und stolz auf ihn sein. Nachdem er einen Briefkasten gefunden hat, geht er zum Krämerladen um neues Papier zu kaufen. Eine lange Schlange steht vor dem Geschäft.
„Die Bomben zahlen wir denen heim!“, lamentiert eine zierliche Dame mittleren Alters. „Der Führer hat Wunderwaffen, die er demnächst einsetzen wird.“
„Woher wollen Sie das wissen?“, entgegnet ihr eine gereizte Schlangesteherin. „Das ist nur der Anfang! Die Amis legen uns alles in Schutt und Asche!“
„Unterstehen Sie sich, solche Äußerungen in aller Öffentlichkeit zu tätigen, oder ich zeige Sie an, Frau Nachbarin! Mein Mann ist in der Partei und hat entsprechende Informationen.“
Werner kehrt zurück, als der Alte den Aufenthaltsraum unter dem Geschütz betritt. „Bevor du dich hinlegst, putzt du meine Stiefel!“
„Dient das der Verteidigung des Landes?“
„Erlaube mal! Ich bin dein Vorgesetzter! Wenn ich dir befehle, meine Stiefel zu putzen, putzt du meine Stiefel ohne Widerworte, bis diese vor Glanz blenden!“
„Das gehört nicht zu meinen Aufgaben!“, stammelt Werner mit zitternder Stimme.
„Du bist mein Leibeigener und machst gefälligst, was ich dir sage! Wo bleibt dein Respekt? Soll ich dich standrechtlich erschießen lassen?“
Werner ist sprachlos. So hat er sich sein Drittes Reich nicht vorgestellt. Als Mitglied der Herrenrasse kann er doch kein Leibeigener sein. Der Alte lässt ihn stehen. Angeekelt putzt Werner die Stiefel. Nach Beendigung spukt er in beide Treter hinein.
Die Tage beginnen mit dem Aufziehen der Hakenkreuz-Fahne. Die Moral ist schlecht. Wenn der Alte nicht anwesend ist, spielen die Jungen Karten. Laufen Mädchen auf der Straße, pfeifen die Pubertierenden ihnen hinterher.
„Lasst euch nicht erwischen, mit den Mädchen zu poussieren!“, ermahnt der K Sieben die Jungs. „Mein Sohn hat in Frankreich mitbekommen, wie die Heeresleitung ein paar junge Kerle erschießen hat lassen, weil diese ihre Dienstpflicht deswegen vernachlässigt haben.“
„In Frankreich weht ein anderer Wind!“, will es Volker Arians mal wieder besser wissen. „Das ist an der Front und nicht so ein langweiliger Dreck wie die Bewachung einer Fabrik!“
„Du kannst es wohl nicht abwarten, ins Gras zu beißen?“
„An zwei Fronten, steht in der Zeitung, muss die Wehrmacht aus taktischen Gründen zurückweichen. Und wir vertrödeln unsere Zeit auf diesem dämlichen Turm, statt die Amerikaner wieder zurück in den Atlantik zu werfen oder den Russen ihre T34-Traktoren zu knacken.“
Fahne runter, Fahne rauf. „Was willst du mal werden, wenn dieser Krieg vorüber ist?“, wird Werner von Volker gefragt.
„Weiß ich noch nicht! Ohne Schulabschluss werde ich irgendetwas Handwerkliches machen.“
„Komme mit mir in die Partei! Wenn ich Gauleiter werde, kann ich jemand wie dich gut gebrauchen.“
„Was wären meine Aufgaben?“
„Du müsstest für Ordnung sorgen. Du wirst mein Polizeichef sein. Zusammen sorgen wir für den saubersten Gau im Reich. Keiner, der nicht auf Linie ist. Keine Fremden, es sei denn, diese Untermenschen erledigen die ihnen zugewiesenen Arbeiten.“
„Es sind dennoch Menschen mit Bedürfnissen.“
„Spinnst du? Die haben für uns zu arbeiten, bis ihre Kraft aufgebraucht ist. Wir beide gestalten das Reich neu! Bist du mit von der Partie?“
„Sicher!“, lügt Werner in der Hoffnung auf andere Zeiten. Alarm!
In großer Höhe fliegen mehrere Verbände amerikanischer Bomber. Der ganze Himmel wird von Kondensstreifen überzogen, die sich Rüsselsheim nähern. Über Mainz steigen Rauchsäulen auf. Die Kanone zeigt senkrecht in die Höhe. Schwarze Wolken unterhalb der Flieger.
„Die sind viel zu hoch!“, schreit der »Alte«. „Spart Munition!“
Erste Bomben explodieren auf dem Werksgelände.
„Wir schießen weiter!“, brüllt Volker. „Wegen euch alten Schwachköpfen verlieren wir den Krieg nicht noch einmal!“
„Haltet ein! Wir gehen in den Bunker! Gegen so viele sind wir chancenlos!“
„Wenn ich eine Waffe hätte, würde ich Sie auf der Stelle erschießen.“
Die Weltkriegsveteranen rennen so schnell es ihre alten Beine mitmachen die Treppe hinunter. Volker tritt dem Letzten in den Hintern. „Ihr feigen Ratten!“, schreit er ihnen hinterher. „Ihr gehört vor ein Kriegsgericht!“
„Ihr dummen Schnösel!“, antwortet der Getretene. „Es lohnt nicht, für einen ideologischen Furz zu sterben!“
Große Teile des Werks liegen bereits in Trümmer. Die verblendeten Jungs feuern wahllos in den Himmel, ohne etwas auszurichten. Aus dem Verband schert ein Jagdbomber aus und geht in den Sinkflug Richtung Frankfurt.
„Das ist unsere Chance!“, schreit Volker. „Diesmal versagen wir nicht! Den holen wir aus der Luft!“
Der Amerikaner dreht über Kelsterbach. „Wartet auf mein Kommando! Holt mehr Munition!“
Der gegnerische Flieger steigt über Groß-Gerau hoch, bis er in der Sonne verschwindet.
„Ich kann ihn nicht sehen!“, schreit Werner am Höhenrad.
„Schießt auf die Sonne! Feuer! Feuer! Feuer!“
Mit einem lauten Knall sackt der Flakturm unter der Wucht einer Luftmiene in sich zusammen. Es ist der 20. Juli 1944.

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