Was ist das für eine Welt?

Von W. Christian Schmitt

Mit der Reihe „Tischgespräche“ gibt das WIR-Magazin seinen Lesern Gelegenheit, unmittelbar am jeweiligen Geschehen mit dabei zu sein, den Menschen hinter seinem (einstigen) Amt kennen­zulernen. Diesmal hat uns Horst Gölzenleuchter (l.), Politrentner, in seine Büttelborner Heimstatt eingeladen.

Nehmen wir einmal an: Wir schreiben das Jahr 1965. In England veröffentlicht der Schriftsteller Eric Malpass gerade einen Roman, der unter dem Titel „Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung“ auch in Deutschland erscheint und ein Weltbestseller werden wird. Im September 2019, also fast fünf Jahrzehnte später, treffen wir uns mit Büttelborns einstigem Bürgermeister Horst Gölzenleuchter, der seit über 50 Jahren (kommunal)politisch aktiv ist, um mit ihm über das Thema „Was ist das für eine Welt, in der wir heute leben (müssen)?“ zu diskutieren. Im Mittelpunkt unseres Gesprächs steht die Frage „Was alles ist nicht mehr in Ordnung?“ hier bei uns, im Hessenland, in der Republik, in Europa und in der Welt – was hat sich verändert im unmittelbaren Zusammenleben der Menschen in unserer Gesellschaft, aber auch jenseits unseres bisweilen begrenzten Horizonts. Zu Beginn gleich ein paar (willkürliche und sicher pauschalierende, aber austauschbare) Fragen/Beispiele: Warum fühlt man sich nicht mehr sicher in Bahnhöfen, Schwimmbädern, bei Volksfesten etc. – wie nicht nur die Boulevard-Presse diagnostiziert? Wieso werden Polizisten, Sanitäter, Feuerwehrleute usw., die einen Dienst an der Gesellschaft leisten, von Bürgern bedrängt, bedroht und gar angegriffen? Welche Folgen hat nicht nur der Klima-, sondern auch der nicht mehr zu ignorierende Werte-Wandel? Was ist von Oberhäuptern wie z.B. in den USA („meinen Sie den durchgeknallten Trump“?), Rußland, Brasilien (wo derzeit der Regenwald abgefackelt wird), Venezuela, Nord-Korea, China, Italien, Polen, Ungarn, der Türkei oder dem Iran zu halten? Gibt es in einer globalisierten Welt noch „innere Angelegenheiten“ eines Staates? Wie ist mit Umfrage-Ergebnissen umzugehen, wonach „83 Prozent der Bürger“ in diesem Land „eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft erleben“?

Wir, zwei Rentner, sitzen bei einem üppigen Zweiten Frühstück zusammen und versuchen auf dies und anderes Antworten zu finden. Was war früher anders, vielleicht noch „in Ordnung“? Horst Gölzenleuchter: „Es geht um die gesellschaftlichen Bande, die man von Kindesbeinen mitbekommen hat. Die zu stärken, zu erhalten, war stets Richtschnur meiner politischen Arbeit. Und trotzdem, es hat sich vieles geändert, nicht immer zum Besseren. Das Menschliche hat eingebüßt. Gesellschaftlicher Zusammenhalt kann nicht von Berlin oder Wiesbaden aus verordnet werden, er muss vor Ort auf kommunaler Ebene, in den Familien, Kindergärten, Schulen, Vereinen und Organisationen vermittelt und gelebt, das solidarische Miteinander gelernt werden“.

Was hat sich bei ihm, dem langjährigen Bürgermeister, verändert und was ist gleichgeblieben? Damals, sagt er, habe „immer vier Minuten vor sechs der Wecker geklingelt“, dann standen Gymnastik und Joggen („das mache ich seit August 1979“) auf dem Programm. Und so ist es auch heute noch, allerdings etwas später. Anders als früher gibt es heute nahezu keine Muss-Termine. Biddelberner Dialekt zu schwätzen, keine Uhr am Arm zu haben, genießt er, wie einkaufen zu gehen und seine Zeit selbst einteilen zu können. Wir sprechen über die gesellschaftlichen Veränderungen reihum, denen wir nicht ausweichen können. Inwieweit fühlen sich Menschen noch dem Gemeinwesen verbunden? Sind sie noch bereit, ehrenamtlich sich zu engagieren – in Vereinen, Institutionen, Verbänden Verantwortung zu übernehmen? Das Desinteresse scheint zuzunehmen. Allerdings spiele die total veränderte Arbeitswelt hierbei auch eine große Rolle. Sie fördere nicht gerade familiäre und gesellschaftliche Wünsche.

Büttelborns einstiges Gemeindeoberhaupt, dessen Vater einst ein kleines Baugeschäft betrieb: Ja, es bröckele vielerorts in Parteien, Vereinen und Kirchen. Und nebenbei erwähnt er, wie wichtig es ihm war, die Bibel „von A bis Z“ gelesen zu haben, wozu er allerdings einige Jahre benötigte. „Nehmen wir nur die Bergpredigt“, sagt er, sie sei – wenn man so wolle – mancherorts „Grundlage von Parteiprogrammen“ gewesen, auch in der SPD. Natürlich reden wir auch über die einstigen Volksparteien und deren sichtbaren Niedergang. Vorbei die Zeiten, da „Arbeiter die SPD wählten“ und von der Kirchenkanzel für die Christdemokraten geworben wurde. Horst Gölzenleuchter, der in seinem Politikerleben nicht nur als Landtags-Kandidat kandidierte, sondern auch bei der Frage, wer Willi Blodt als Landrat nachfolgen könne, damals im Gespräch war, weiß, dass – auf welcher politischen Ebene auch immer („Politik ist keine Fastnachtsveranstaltung“) -, es zunehmend schwieriger werde, „komplexe Zusammenhänge zu erkennen, sie zu begreifen, zu diskutieren und Ergebnisse zu erarbeiten“, die Probleme lösten und gleichzeitig eine breite Anerkennung fänden. Eine Aufgabe, die schnelle Entscheidungen kaum möglich machten. Dennoch, so Gölzenleuchter: „Ich bin nach wie vor an Problemlösungen interessiert“. Was er im Kreistag, dem er seit 1993 angehört, nach wie vor unter Beweis stellt.

Alt-Bürgermeister solle ich nicht zu ihm sagen. Denn das sei ein Ehrentitel, den man ihm in Büttelborn nicht verliehen habe. Aber an eine Sache erinnere ich ihn noch: Vor seinem Ausscheiden aus dem Bürgermeister-Amt hatte er mir anvertraut, er wolle noch einen Brief an Angela Merkel (die er durchaus schätze) schreiben, in dem er der Kanzlerin einmal vor Augen führe, „was es tatsächlich an der Basis, also bei den Bürgern in den Kommunen jenseits der Berliner Politik, alles für Probleme“ gebe. Denn hier spiele die gesellschaftliche Musik. Hier sei das tagtägliche Leben und das gesellschaftliche Miteinander zu meistern.
Dieser Brief ist allerdings nie geschrieben worden. Was man als durchaus schade bezeichnen könnte.

 

Zur Person: Horst Gölzenleuchter, 1947 in Büttelborn geboren; 1953 – 1963 Grundschule Büttelborn und Realschule Groß-Gerau Mittlere Reife, 1963 – 1983 Verwaltungs-Lehre, Ausbildung zum Dipl. Verwaltungswirt, Tätigkeiten im Jugendamt und kommunaler Sportverwaltung, Personalratsvorsitzender, 1968/1969 Grundwehrdienst; 1983 – 2013 Bürgermeister in Büttelborn; verheiratet, eine Tochter, drei erwachsene Enkelkinder. Hobbies: Obstbaumkleingarten/30 Bäume; Weihnachtskrippen bauen.

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