Was uns jetzt zusammen hält

Gedanken zur Corona-Krise

Der Theologe Dr. Wolfgang Fenske und WIR-Redakteur und Philosoph Ulf Krone über die menschliche Gemeinschaft in Zeiten von Corona.

Corona und die Kirche

Von Dr. Wolfgang Fenske

Seit alten Zeiten sind Christen vielfach in Kirchen anwesend, gerade wenn Menschen Not leiden. Menschen kommen zusammen, um in der Gemeinschaft und im Glauben Halt zu finden. Und jetzt, im Corona-Monat? Um nicht andere anzustecken, wurde schon sehr früh über eine Aussetzung der Gottesdienste diskutiert. Man gibt sich damit vielerorts jedoch nicht zufrieden. Man sucht nach Alternativen, nach Gemeinschaft, ohne zusammenkommen zu können.

Da bieten sich die Glocken an. Glocken sind das Kommunikationsmedium schlechthin. Sie künden nicht allein mit dem Stundenschlag die Zeit an, sondern sie läuten christliche Gebetszeiten ein (6:00 – 12:00 – 18:00 Uhr), schlagen Alarm, wenn Not ist, laden zum Gottesdienst ein. In Corona-Zeit wird die Glocke genutzt, um Menschen zum Gebet zu rufen. Um 19:30 Uhr läutet das Vater-Unser-Glöckchen, und jeder, der möchte, kann mit den anderen ohne sie zu sehen das Vater-Unser beten. Es bildet sich eine Gebetsgemeinschaft. Ein Priester in Italien bat um Selfies, weil er nicht vor leeren Kirchenbänken Gottesdienst halten wollte. Viele schickten ihre Bilder (auch in Nauheim), sodass eine Gottesdienstgemeinschaft besteht, ohne dass Menschen anwesend sind – aber sie wissen sich in einer Gemeinschaft vor Gott eingebettet.

Entsprechend gibt es viele lokale Aktionen solcher Art, aber auch soziale Aktionen, digitalisierte Gemeinschaften über soziale Medien, Fernsehgottesdienste (ARD/ZDF, K-TV, BibelTV), gestreamte Gottesdienste, biblische und andere Mutmach-Texte usw.

Kritik wird laut, weil die EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) nicht nationale Gebetstage ausruft. Ich denke, dass alle Christen vor Ort je nach Fähigkeiten/Gaben kreativ tätig sein können. Die Rufe, dass alles einheitlich sein muss, missachten lokale Besonderheiten. Manches gelingt, manches läuft ins Leere, manches zeigt sich als wenig durchdacht – sei’s drum: Wir sind auch als Christen Menschen, die versuchen, mit einer unbekannten Gefahr fertig zu werden, zum Wohl anderer.

In Medien wird zum Teil heftig die Sicht kritisiert, dass Epidemien als Strafe Gottes bezeichnet werden. Man mag dazu theologisch stehen wie man will. Seit alters wird mit dieser Aussage auch moralisches Handeln verbunden: Wenn etwas als Gottes Strafe bezeichnet wurde, wurde sofort daran angeschlossen: Verhalte dich sozial. Wir kennen das heute auch. Manche sagen: Die Natur straft mit Katastrophen – also soll der Mensch sich umweltbewusst verhalten. Heute werden damit Forderungen nach Gesetzen verbunden. In christlicher Tradition wurde damit eigenständiges verantwortungsvolles Handeln betont, wobei es allerdings auch furchtbare irrationale Auswüchse gab. Wer verantwortlich handelt, sucht die Fehler nicht bei anderen, beschimpft nicht diejenigen, die nicht so handeln, wie man es selbst für richtig hält, nörgelt nicht besserwisserisch herum, wartet nicht auf einen starken Mann oder eine starke Frau, sondern tut das, was nötig ist.

Was bedeutete aus christlicher Perspektive verantwortlich zu handeln? Leg dich im Leben und Sterben in Gottes Hand! Damit schaut man nicht auf die notvollen Zustände, überlässt sich nicht seinen Ängsten und Sorgen, sondern schaut auf den liebenden Gott. Verhalte dich sozial! Böse Taten sind ansteckend, aufgeregtes Geschwätz, lähmende Resignation, egoistische Selbstfixierung – all dem werden sachlich durchdachte gute Taten entgegengesetzt. Konzentriere dich auf das Wesentliche! Häufig wird der Blick durch Oberflächlichkeiten vom Wesentlichen abgelenkt. Carpe diem, nutze den Tag, tu das, was wichtig ist, das, was in deinen Augen relevant ist, wirklich Wert und vor Gott Bestand hat.
Die Aufgabe der Kirche und der Christen ist zu allen Zeiten gleich: Dunkle Zeiten mit Gottes Licht zu durchdringen, schwere Zeiten mit Gottes Kraft zu überwinden. Wie das geschehen soll, das werden die jeweiligen Christen betend und fürbittend selbstverantwortlich in ihrer jeweiligen Zeit mit ihren je eigenen Problemen entscheiden. Auch in Zeiten von Covid-19.

Dr. Wolfgang Fenske
ist ev. Theologe und Lehrer an der Groß-Gerauer Prälat-Diehl- Schule;
wolfgangfenske@aol.com

Der Mensch in Zeiten von Corona

Von Ulf Krone

Wie unsere Verwandten, die Affen, sind auch wir Menschen soziale Wesen. Nur gemeinsam konnten wir den gesamten Planeten erobern, allein wären wir verloren. Der Drang zur Zusammenarbeit, zu sozialer Interaktion liegt in unserer Natur, es ist ein Überlebens-Instinkt. Deshalb sind Seuchen, deshalb ist das Corona-Virus (COVID-19) für uns derart bedrohlich, ja erschreckend. Denn es verwandelt unsere größte Stärke, die Masse sowie die Kooperation untereinander, in unsere größte Schwäche.

Und das an einem Punkt unserer Geschichte, an dem es in unserem Land kaum noch Menschen gibt, die wahrhaftige Ausnahmesituationen wie Hungersnöte oder Krieg noch selbst erlebt haben. Zu einer Zeit, in der uns eine Konsum-bestimmte Bequemlichkeit zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein scheint, in der das soziale Miteinander zumeist institutionell geregelt wird und Empathie vielfach durch gieriges Haben-wollen und egoistisches Anspruchsdenken ersetzt wurde. Während die Aufrechten in den Ehrenämtern, in den unverschämt schlecht bezahlten Pflegeberufen, in der Kommunalpolitik und an vielen anderen Stellen sich dem jede Solidarität verschlingenden Kapitalismus unserer Zeit entgegenstemmen und für eine sichere, offene und lebenswerte Gesellschaft kämpfen.

Es heißt, in Krisensituationen zeige sich das wahre Gesicht eines jeden Menschen, sein wahrer Charakter, seine moralische Stärke. Wenn dem so ist, gibt es sowohl Anlass zur Freude als auch zur Fassungslosigkeit. Während die sonst um Macht und Pfründe streitende Politik in der Krise zusammenfindet und mit einigermaßen raschem Handeln und zuvor nie gesehener Einigkeit überrascht, während Ärzte, Pflegekräfte, Apotheker, die Mitarbeiter der staatlichen Institutionen, Wissenschaftler, Ehrenamtliche und alle Menschen, die an der Versorgung der Bevölkerung arbeiten, an ihre Belastungsgrenze gehen und ihre eigene Gesundheit riskieren, um die bestmögliche Behandlung der Betroffenen sowie ein Funktionieren der Gesellschaft weiterhin zu gewährleisten, während all dieser Anstrengungen gibt es auch eine nicht geringe Zahl an Menschen, die jede Vernunft über Bord werfen und unnötige Hamsterkäufe tätigen, die sich zu so genannten „Corona-Partys“ treffen, die mit vermeintlichen Wundermitteln die Angst ihrer Mitmenschen finanziell ausnutzen oder mit ihr in irgendeiner Form Quote machen.

Darüber hinaus scheint es zahlreiche Menschen zu geben, die sich die derzeitigen Beschränkungen vor allem der Bewegungsfreiheit nicht bieten lassen wollen. Es sind jene, denen die Freiheiten einer offenen demokratischen Gesellschaft zu einer vermeintlich naturgegebenen Selbstverständlichkeit geworden sind, auf die sie einen unwiderlegbaren Anspruch haben. Man geht raus, das Wetter ist schön, man trifft sich im Privaten in einem Park oder an einem Fluss, und immer hat man eine passende Begründung dafür, warum für einen selbst die allgemeinen Regeln gerade nicht gelten. Wie die Eltern, die jeden Morgen die Halteverbote vor den Schulen des Landes zuparken, um ihre Kinder abzusetzen, obwohl diese auch ganz leicht zu Fuß, mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zum Unterricht kämen. Die Regeln gelten stets für die anderen, denn das sind die „Unzuverlässigen“.

Ausnahmen können wir uns allerdings aktuell nicht leisten. Denn einen Krieg kann man auch gewinnen, wenn Teile der Bevölkerung nicht kämpfen. Eine Volkswirtschaft funktioniert auch, wenn es Menschen gibt, die nicht arbeiten. Aber eine Pandemie, in der es bislang weder eine Behandlung noch einen Impfstoff gibt, besiegt man nur gemeinsam. Und das meint alle, jeden einzelnen von uns. Das ist keine Verschwörung, das ist die Pest des 21. Jahrhunderts! Und wir haben noch Glück, dass es sich um ein für die meisten Menschen relativ harmloses Virus handelt. Es könnte auch Ebola sein.

Seien wir vernünftig! Jetzt können wir zeigen, ob das, was wir stets behaupten, auch der Wahrheit entspricht. Ob wir tatsächlich dem Tier überlegen sind, ob wir Kultur haben, oder ob wir bloß unseren animalischen Instinkten, dem bedingungs- und in seiner menschlichen Ausprägung rücksichtslosen Überlebensdrang folgen. Kultur bedeutet nämlich, uns von den uns eingeschriebenen instinktiven Zwängen freizumachen. In der aktuellen Situation meint dies, Vernunft walten zu lassen und die eigenen Ansprüche herunterzuschrauben. Vermeiden Sie soziale Kontakte! Bleiben Sie zu Hause! Das Leben, mit dem Sie spielen, ist Ihr eigenes. Sie werden es vielleicht nicht verlieren, aber wenn das Gesundheitssystem und die Wirtschaft zusammenbrechen, wird es sich fast so anfühlen.

Ulf Krone
ist Redakteur beim WIR-Magazin und studierter Philosoph;
ulf.krone@wir-in-gg.de

Das könnte Dich auch interessieren …