Wer die Welt verändern will …

Von Jürgen Volkmann.

Zur Präsentation des „Kulturatlas 2018/19“ im Groß-Gerauer Stadtmuseum hielt Museumsleiter Jürgen Volkmann einen Vortrag über die Entstehungsgeschichte dieser Dokumentation, den wir unseren Lesern wie Nutzern hiermit vorlegen.

Foto: Im Stadtmuseum wurde der „Kulturatlas 2018/19“ offiziell im Beisein all jener, die am Zustandekommen dieses Nachschlagewerks beteiligt waren sowie zahlreicher Gäste vorgestellt. Unser Foto zeigt (v.r.): Anette Welp (Autorin), Britta Röder (Mitherausgeberin des Kulturatlas), Ralf Schwob (Mitherausgeber), W. Christian Schmitt (Herausgeber WIR-Magazin), Bärbel Fox (Gestalterin des Kulturatlas-Covers), Jürgen Volkmann (Museumsleiter), Kreisstadt-Bürgermeister Erhard Walther, Michael Schleidt (WIR-Verleger), Siggi Liersch (Liedermacher) und Beate Koslowski (Mitherausgeberin).

 


Jürgen Volkmann
ist Leiter des Groß-Gerauer Stadtmuseums.
juergen.volkmann@gross-gerau.de

Im Wortlaut:

Wer die Welt verändern will, muss sie zunächst richtig beschreiben!

Im Turnus von vier Wochen trifft sich hier im Groß-Gerauer Stadtmuseum eine illustre Gesellschaft aus Vertretern unterschiedlicher Kunstrichtungen zum gepflegten Austausch. Die erste – ja von manchen gefürchtete – Frage des Einladenden, W. Christian Schmitt nämlich, lautet, wer denn am betreffenden Abend das Protokoll führen mag. Diese Frage löst in der Regel ein zähes Ringen aus, aber es gelingt am Ende dennoch zumeist, schriftlich festzuhalten, was sich an dem Abend ereignet oder auch von welchen Ereignissen die Rede war.

Nun wird mancher fragen: Kultur und Stammtisch? Geht denn das zusammen. Und damit noch nicht genug: ein Stammtisch, dessen Beiträge auch noch zu einem Protokoll gerinnen? – ungewöhnlich! Da drängt sich die Frage nach der Gründungsidee, den Anfängen dieser Veranstaltung auf und die liegt nun im Jahre 2004. Das erste Treffen wurde auf Initiative von W. Christian Schmitt und Dittmar Werner ergriffen. Beide um Kulturelles in Groß-Gerau schon längere Zeit sehr bemüht: der eine im Rahmen seiner Herausgeberschaft des „Wir-Magazins“, das, nachdem es ein vergleichbares Blatt schon seit den 90er Jahren in Reichelsheim im Odenwald und anschließend auch in Darmstadt gegeben hatte, er seit August 2001 zusammen mit Michael Schleidt herausgab und das Konzept verfolgte, die örtlichen Entscheidungsträger zu Wort kommen zu lassen, wobei natürlich auch die Kultur eine gewichtige Rolle spielte. Ja, das Wir-Magazin und sein Herausgeber wurden selbst immer wieder mit kreativen und anspruchsvollen Ideen zum Kulturveranstalter. Zu denken ist an das Kulturkabinett im Stadtmuseum, die Dichterlesungen zusammen mit der Groß-Gerauer Volksbank, Gesprächsrunden in der Kreissparkasse oder die Reihe „Das Beste aus dem Gerauer Land“.

Und mit Dr. Dietmar Werner war der andere – von Beruf Studienrat am Prälat-Diehl-Gymnasium – gewissermaßen ein praktizierender Kulturmensch. Er hatte sich der Lyrik verschrieben und betrieb dieses Metier mit einem ausgeprägten intellektuellen Anspruch. Leider ist Dietmar Werner schon früh von uns gegangen. Den Gründern schwebte die Idee vor, einen Kulturbeirat zu gründen, der mit eigenen Projekten das Groß-Gerauer Kulturleben bereichern sollte. Aus dem bürokratisch anmutenden Beirat wurde dann ein „Künstlertreff“ und schließlich der „Kulturstammtisch“ als offener Gesprächskreis ohne ständige Anwesenheitspflicht. Das Treffen – zunächst im Hotel Adler – etablierte sich, war stets gut besucht und erging sich keineswegs im folgenlosen Austausch, sondern setzte bald schon ein erstes gewichtiges Ausrufezeichen. Und dass Kulturleute nicht nur viel Kreativität entfalten können, sondern auch sehr systematisch und mit Sorgfalt an die Arbeit gehen, zeigte sich in dem Vorhaben, sich zunächst mal einen Überblick über das Kulturleben in Groß-Gerau zu verschaffen, ganz nach dem Grundsatz des großen Sozialdemokraten August Bebel: „Wer die Welt verändern will, muss sie zunächst richtig beschreiben!“ Ja, und das Ergebnis war der erste Groß-Gerauer Kulturatlas im Jahre 2007, herausgegeben von W. Christian Schmitt und Dittmar Werner zusammen mit dem Magistrat der Kreisstadt Groß-Gerau.

Sage und schreibe 70 Kulturschaffende Personen konnte der Atlas vorstellen, dazu noch zahlreichen Kultur-Vereine, Institutionen und Orte der Kultur. „Es wäre wünschenswert, das vorliegende Dokument als Organ zur Vernetzung der hiesigen Kulturschaffenden untereinander, zur Planung für gemeinsame Veranstaltungen und als Botschafter für die Partnerstädte zu nutzen, besonders da Groß-Gerau 2007 zur Kulturstadt des Kreises wird“, so formulierte es Dietmar Werner in seinem Vorwort.

Und tatsächlich funktionierte es mit der Vernetzung und auch der Planung gemeinsamer Projekte. Man hatte schon länger über neue Formen der Kulturvermittlung und –veranstaltung in Groß-Gerau nachgedacht. So kam die Idee auf, mit Werken der bildenden Kunst in die Groß-Gerauer Restaurants und Gaststätten zu gehen, um dem Publikum einen besonderen Kunstgenuss am ungewohnten Ort zu ermöglichen. Das Ganze bekam eine neue Wendung, als im selben Jahr Bürgermeister Stefan Sauer sein Amt antrat und man mit ihm ein Treffen vereinbarte, um über diese Ideen ins Gespräch zu kommen. Der Bürgermeister seinerseits, die Stärkung der Groß-Gerauer Innenstadt mit ihrem Handel und Gewerbe im Sinn, kreierte dazu das passende Format: die „Nacht der Sinne“ war geboren, ist bis heute ein Erfolgsmodell und eine wichtige Plattform für viele Mitglieder des Kulturstammtisches.

Der Kreis der Interessenten und Teilnehmer weitete sich nach dem Erscheinen des Kulturatlasses schnell, und so wurde das Projekt einer Neuauflage mit einem erweiterten Einzugsgebiet notwendig. „Kulturatlas 2011. Kreativität in der Kreisstadt und im Gerauer Land“. Kreative aus Büttelborn, Nauheim, Worfelden, Gernsheim, Mörfelden-Walldorf u.a. kamen nun regelmäßig zu den Treffen des Kulturstammtisches und pflegten einen fruchtbaren Austausch . Im Vorwort vermerkte Bürgermeister Stefan Sauer treffend: „Erkennbar ist das Anliegen, die Aktivitäten als Beitrag in das öffentliche Kulturangebot einzubringen. Ein besonderes Projekt in dieser Hinsicht ist die Herausgabe des Groß-Gerauer Kulturatlasses. Ich halte diese Darstellung für eine ausgezeichnete Grundlage, die Vielfalt des Groß-Gerauer Kulturlebens in Gestalt von Personen sichtbar zu machen und bin überzeugt, dass der Kulturatlas weitere interessante Aktivitäten generieren und entfalten wird.“

Und das tat die Runde dann auch. Ich erinnere mich sehr gerne an die Jubiläumsausstellung im Jahre 2014 „10 Jahre Groß-Gerauer Kulturstammtisch“ mit einer sehr, sehr ansprechenden Zusammenstellung zahlreicher Mitglieder des Stammtisches und den begleitenden Veranstaltungen, und die Bereicherung der „Nacht der Sinne“ durch Mitglieder des Kulturstammtisches gehörte natürlich nach wie vor dazu.

Heute nun stellt sich der neue Kulturatlas 2018/19 vor, in attraktivem Gewand und mit wiederum veränderten Konzept. Ein Akzent ist jedoch gleichgeblieben und dies möchte ich aus historischer Sicht besonders ins Bewusstsein rücken. Es heißt nämlich im Titel nach wie vor „Kulturatlas Gerauer Land“. Es handelt sich dabei nicht um eine offizielle, verwaltungsmäßig kodifizierte Bezeichnung, sondern um eine Überlieferungsform. Ihren Ursprung hat sie im hohen Mittelalter, als mit der 910 ausgestellten Urkunde von einer „geraha marca“ die Rede ist. Gemeint war damit ein Königshofbezirk, der von Wallerstädten bis nach Bessungen reichte. Später repräsentierte dieser Raum eine Markgenossenschaft, die unter der Oberhoheit der Herrschaft die gemeinsame Wald- und Wassernutzung in diesem Raum regelte, und auch der Bezirk für die hohe Gerichtsbarkeit, dessen Symbol wir heute noch am Giebel des Historischen Rathaus im Schwert erkennen können, bezieht sich auf dieses Gebiet. Zusammen mit der Funktion Groß-Geraus als Markt- und Kirchenmittelpunkt konstituierte sich damit die Mittelpunktfunktion der Stadt in Bezug auf das umliegende Land, das „Gerauer Land“ eben. Eine solche Form lebt von der mündlichen Überlieferung und ist dadurch zumeist auf den örtlichen Gebrauch beschränkt. Als der bekannte Kulturhistoriker W.H. Riehl in den 1860er Jahren das Gerauer Land bereiste, vermerkte er: „Als ich in den Märztagen dieses Jahres meinen gelehrten Münchener Freunden sagte, ich wolle einen Gang durchs „Gerauer Land“ machen, fragten mich alle, wo denn das Gerauer Land liege? Eben weil sie Gelehrte sind, wussten sie’s nicht; denn jener Name lebt nur im Volksmunde.“ Und weiter: „Übrigens erlischt der Name des Gerauer Landes, wie mir scheint, allmählich auch beim Volke. In Frankfurt zwar kennen ihn die Hausfrauen noch durch die Gerauer Bauern, welche ihnen die besten Kohlköpfe zum Sauerkraut bringen, und in Mainz und Wiesbaden war vor der Anlage der Eisenbahn das Gerauer Land vielgenannt als eine besondere Domäne der Frachtfuhrleute. Und endlich, wenn einer ein recht böses Gesicht macht, so sagt man in dortiger Gegend: man meint, der habe die Pfalz vergiftet und wolle auch noch ans Gerauer Land.“ Übrigens lebt der Name als offizielle Bezeichnung noch fort in Gestalt des „Wasserwerks Gerauer Land“, gegründet im Jahre 1927 und im übrigen inspiriert – anders als bei Riehl – von einem Akademiker, dem ersten hauptamtlichen Bürgermeister unserer Stadt, Dr. Bernhard Lüdecke, nämlich.

Ja, weshalb unternehme ich mit Ihnen diesen historischen Exkurs. Ich halte es für einen sehr guten Gedanken, dass hier ein Begriff aus der Tradition unserer Stadt und der Region in die Moderne überführt wird und dies einem Kulturatlas besonders gut zu Gesicht steht. Kultur entsteht nicht aus einem losgelösten schöpferischen Akt heraus, sondern gedeiht im Boden gewachsener Traditionen und deren kulturellen Äußerungen. Der Kulturatlas spiegelt dies in seinem Titel wider, er stellt Neues vor, eröffnet neue Ansichten und Sichtweisen und er bildet zugleich Traditionen ab, ist damit ein gewichtiges Stück Identität und authentische Groß-Gerauer Kultur – macht transparent, lässt sich schwarz auf weiß in Besitz nehmen, repräsentiert gemeinsame Werte und zeigt, dass Deutschland ein Kulturland ist – um die so überschriebenen Einleitungen unserer Herausgeber zu kollagieren.

 


Der Kulturatlas Gerauer Land 2018/2019
PDF-Download

 

Grußwort von Bürgermeister Erhard Walther:

Kultur ist Lebensqualität

„Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn entdeckt, hat Kultur. Aus ihm kann noch etwas werden.“ Dieser Satz aus Oscar Wildes „Dorian Gray“ ist gewiss richtig, doch letztlich verbirgt sich hinter dem Begriff Kultur so viel mehr als die von Oscar Wilde beschriebene Fähigkeit, in schönen Dingen einen schönen Sinn zu entdecken. Bildhaft gesprochen ist Kultur das Strahlen im Gesicht einer Stadt, einer Region. Sie lockt gut ausgebildete Menschen genauso an wie Touristen und Unternehmen, bringt die Region also auch ökonomisch voran. Kultur zu erhalten, mag bisweilen aufwändig und teuer sein. Und dennoch ist es kein dekorativer Luxus, den wir uns leisten, sondern gerade in unserer heutigen pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft ein unverzichtbarer Beitrag zur Orientierung.

Kultur ist aus dem Leben unserer Stadt, unserer Region nicht wegzudenken. Kultur macht das Leben lebenswerter, Kultur bildet und erheitert, Kultur trägt zum besseren Verständnis zwischen den Menschen bei. Kurzum: Kultur ist ein Modus unseres Zusammenlebens, Ausdruck der Humanität einer Gesellschaft.

Die dritte Auflage des Groß-Gerauer Kulturatlasses verleiht Kulturschaffenden der verschiedensten Sparten ein Gesicht. Im „Kulturatlas 2018“, finden Kulturschaffende aus der Region zusammen, repräsentieren vielfältige Genres. Sie stellen sich vor, gewähren einen kompakten Einblick in ihre Arbeit. Die verschiedenen Kunstformen, die uns der Kulturatlas offenbart, eröffnen uns eine Vielzahl von Möglichkeiten: Sie schenken uns Identifikation mit der Region, schärfen unseren Blick für kreative Ausdrucksvarianten und lassen uns mit anderen in Kontakt treten. Denn durch Kultur werden Menschen zur Gemeinschaft, Landschaften zum vertrauten Zuhause und Fremde zu Freunden. Somit leistet Kultur einen maßgeblichen Beitrag zur Lebensqualität und zum positiven Image der Stadt und des Landkreises Groß-Gerau.


Erhard Walther
Ist Bürgermeister der Kreisstadt Groß-Gerau;
www.gross-gerau.de

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