WIR, das Alter und ich

Von W. Christian Schmitt.

Der WIR-Gründer und für Redaktion, Kultur und Konzeption zuständige Herausgeber W. Christian Schmitt wird am 9. Juli 75 Jahre alt. Anstelle einer Laudatio drucken wir einen Teil seiner Erinnerungen ab, die auf ein ereignisreiches, spannendes Leben schließen lassen.

Journalismus hält jung. Man muß nur ausreichend alt werden. Ich darf mich dazu zählen. Wer die 75-Jahre-Altersgrenze schafft, so ist gelegentlich zu hören, der packt auch die restliche Wegstrecke, sprich „das 4. Viertel“ – das allerdings einem Leben auf Abruf gleichkommt. Dieser Essay-Anfang fiel mir ein, als ich bei meinem Zahnarzt auf der Liege Platz genommen hatte und er vorschlug, diesmal auf die obligate Spritze zu verzichten. Also Zeit zum Nachdenken. Erstmals richtig nachgedacht über meinen Beruf und das Alter habe ich 1988 in einem Essay, der unter der Überschrift „Was mir auffiel, was mir zufiel, was mir einfiel“ in dem Morstadt-Jubiläumsband „Satz-Zeichen“ erschien.

Woran erinnere ich mich heute besonders, wenn ich auf die zurückliegenden Jahrzehnte zurückblicke? Zuerst an meinen Opa, der mir von Kindesbeinen an „die Welt“ zu erklären versuchte (was später dann für mich eine Art journalistischer Auftrag werden sollte). An meinen allerersten Zeitungsbeitrag, den ich als Unterprimaner für die Groß-Gerauer Heimat-Zeitung schrieb. An den ersten Hörfunk-Beitrag, den ich live für den WDR zu liefern hatte. An die Leipziger Buchmesse, wo ich zweimal als Ghostwriter der Messechefin die Eröffnungsrede schreiben durfte. An die Anthologie „Reise ans Ende der Angst“ mit ihren 27 Autoren (von Karin Struck über Robert Jungk bis zu Johannes Mario Simmel), die 1980 bei C. Bertelsmann erschien. An die Begegnung mit Günter Grass, den ich während der Frankfurter Buchmessen-Zeit von seinem Hotel in der Wetterau abholen und zu einer Lesung nach Reichelsheim im Odenwald chauffieren durfte. An ein Gespräch mit Janosch, den ich fürs Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel interviewte. An den Lehrauftrag, den ich 1996 auf Einladung von Professor Wolfgang Promies an der TH Darmstadt zum Thema „Von Gutenberg bis zum Daten-Highway“ übernehmen konnte. An die Auszeichnung, die ich während der Reichelsheimer Märchen- und Sagentage aus der Hand des Regierungspräsidenten erhielt. Und an all die Menschen aus Kultur, Theologie, Politik, Wirtschaft und Show-Business, denen ich in 50 Jahren Journalismus begegnete und über die ich Leser aus erster Hand informieren durfte. Nicht zu vergessen all die Freunde und Bekannten, die meinen Lebensweg kreuzten.

Und natürlich auch der Glücksfall „WIR-Magazin“. Es war allerdings eher ein Zufall, dass sich noch vor der Jahrtausendwende der Reichelsheimer Bürgermeister Gerd Lode, der Diplom-Designer Harry Hummel und ich zusammenfanden und die Idee zu einem durch Anzeigen finanzierten WIR-Monatsmagazin diskutierten. Es blieb nicht bei der Theorie. Am 23. April 1999 starteten wir zunächst im Odenwald und anschließend mit geschütztem Titel und journalistisch ausgerichteter Blatt-Konzeption in Darmstadt/Reinheim (wo unsere Auflage bereits bei 33.000 Exemplaren lag). Das Projekt „WIR-Magazin“, mit dem wir Lesern eine Alternative zur Lokalzeitung anboten, entwickelte sich rasch zur Erfolgsgeschichte. Im August 2001 bekam dann auch Groß-Gerau sein „WIR. Das Kreisstadt-Magazin“.

Heute würde man so etwas ein Start-up-Unternehmen nennen. Für mich war und ist es eine auf Dauer angelegte erfolgreiche Geschäftsidee, an der mittlerweile ein ganzes Team partizipieren kann. Ich erinnere mich aber auch an die Zeit, wo wir noch halbe Kinder waren und in den Ami-Baracken am Groß-Gerauer Wasserturm erstmals die Bekanntschaft mit Kakao-Getränken machten und die ersten Micky-Maus-Filme sehen durften. Auch an die Räuber-und-Gendarm-Spiele, für die sich die – erst später gesprengten – Wehrmachtsgräben am Ende der Klein-Gerauer-Straße anboten. Was alles versuchten wir damals, unser bescheidenes Taschengeld aufzubessern? Auf den Tennisplätzen unterhalb des Wasserturms waren Balljungen immer gesucht, und auch das Austragen von Lesezirkel-Mappen war begehrt.

Wie schnell sind diese Jahre vergangen und auch die beruflichen, die ich beim Echo, der Hannoverschen Allgemeinen, dem Buchreport und dem Börsenblatt verbrachte. Vergangenheit auch die Zeit als Freier Journalist, der sich auf Buch- und Literaturmarkt-Themen spezialisiert hatte und damit in besten Zeiten rund drei Dutzend Tageszeitungen (auch aus der ehemaligen DDR) versorgte. Daran erinnern noch etliche Leitzordner in meinem Archiv, wo mehr als 6.000 Abdruck- bzw. Sende-Belege gesammelt sind aus nahezu 60 Tages- und Wochenzeitungen (u.a. auch Welt am Sonntag, Die Zeit oder Weltwoche), aber auch Magazinen (wie u.a. stern und playboy) und Rundfunk-Anstalten (u.a. WDR und Radio Bremen). Direkt hinter meinem Büro-Schreibtisch befinden sich zudem fein säuberlich aneinandergereiht die Bücher, die meinen Namen tragen (15 an der Zahl) sowie all jene, zu denen ich Beiträge liefern durfte (wie u.a. zu Band 4 der Bertelsmann-Enzyklopädie „Deutschland. Das Porträt einer Nation“).

Was bleibt, wenn ich zurückschaue? Längst ist im beruflichen Leben nicht alles so gekommen, wie ich es mir vorgestellt oder gar gewünscht habe. Aber oft war es genauso richtig. Oder um ein Zitat des Dalai Lama zu gebrauchen: „Nicht zu bekommen, was man will, ist manchmal ein großer Glücksfall“.
Ohne meine Frau, meine Tochter und Enkelin Sophie wäre mancher Tag ohne Licht. Ihnen sowie all den Weggefährten vergangener Tage habe ich zu danken.

Das könnte Dich auch interessieren …