Zeit, wach zu werden
Von Anette Welp.
Von Aachen bis Winsen, in Frankfurt, Münster, Lüneburg, Köln, Rüsselsheim – überall demonstrieren junge Menschen und gehen für den Klimaschutz auf die Straße. Sie streiken, weil die Politik träge, korrupt und launisch ist. Sie streiken, weil sie es verstanden haben, weil ihr Weitblick ausreicht, um zu verstehen, dass ihr eigenes Leben, ihre Zukunft bedroht ist. Auf einer Website sind alle „Fridays for Future“-Aktionen und Streiks, ein Entschuldigungsschreiben für die Schule, Material und ein Spendenaufruf zu finden.
„Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Nichts ist mehr wie es einmal war,“ sagte mir letzte Woche eine Siebzigjährige, als ich eher zufällig mitten in einer „Fridays for Future“-Demo stand. In ihren Augen sah ich große Verzweiflung. „Ich finde gut, dass die jungen Menschen so wach und mutig sind. Aber ob das was bringt, weiß ich nicht. Die Politik macht sowieso, was sie will.“ Als ein junges Mädchen selbstbewusst in das Mikro über ihre Forderungen spricht, bekomme ich Gänsehaut vor Glück.
Schon die kleinsten Kinder rebellieren, weil sie sich in den alten Systemen nicht wohlfühlen. Sie sind einerseits überfordert, sich aus dieser Enge zu befreien, andererseits unterfordert, weil sie nicht fürs Leben lernen, sondern Dinge lernen sollen, die sie nicht interessieren. Die jungen Menschen wollen sich von den Alten nicht mehr vorschreiben lassen, wie sie zu denken haben. Sie wollen ihre Zukunft mitgestalten. Vor allem wollen sie Perspektiven für sich und ihre Kinder. Sie haben den Anspruch, in einer Welt zu leben, in der das Leben selbst geachtet und beschützt wird. Und wissen Sie was? Das will ich auch! Ich freue mich über diese jungen Menschen mit ihrem Weitblick, ihrem Zorn, ihrer Lautstärke, ihrem Mut und ihrer Wachheit.
Die ganze Welt scheint in Aufruhr zu sein. Systeme werden zu eng, lösen sich auf oder werden zerstört, weil sie nicht mehr passen. Traditionen verkümmern, weil deren Inhalte überholt sind oder sie werden mit neuem Sinn gefüllt. Ich kenne Menschen, die sich um keinen Preis der Welt bewegen wollen. Andererseits hat eine Freundin ihr Chaos für einen radikalen Cut genutzt und ihr altes Leben zurückgelassen. Sie hat sich nicht nur von ihrer Heimat, sondern auch von allen Freundinnen und Freunden getrennt. Die einen kündigen und finden endlich ihre Berufung. Die anderen verkaufen alles und verlassen ihre Stadt oder sogar ihr Land.
Heute ist alles möglich. Die Welt ist im Fluss. Ob wir wollen oder nicht, wir können uns diesem Fluss nicht entziehen. Wir alle sind aufgefordert, nachzudenken und umzudenken. Unser Denken schwingt in einem anderen Bewusstseinszustand. Und dieser Bewusstseinswandel ist nicht aufzuhalten. Auch nicht mit Gewalt und Unterdrückung. Wenn ein kleines Steinchen ins Rollen kommt, folgen viele nach. Kleine Steine, große Steine. Nicht nur der Glaube an etwas oder jemanden kann Berge versetzen, sondern auch unser Handeln. Ich finde es wundervoll, wach und bewusst mein eigenes Leben zu gestalten!
Anette Welp
ist Autorin und Verlegerin sowie Frauenbeauftragte in der Treburer Gemeindeverwaltung;
augenauf.welp@t-online.de