Mit Kuhherden durch den Rhein

Von Rainer Beutel.

Unter dem Titel „Umstritten und umkämpft. Die Niersteiner Rhein-Auen (13. bis 16. Jahrhundert)“ hält der in Trebur-Astheim beheimatete Historiker Constantin Mussel am 7. Oktober einen Vortrag in Nierstein. Als Gast des dortigen Geschichtsvereins will er aufzeigen, warum der Rhein einst keine wirkliche Landesgrenze war und heute vielleicht auch nicht als solche verstanden werden muss. Gegenüber WIR-Redakteur Rainer Beutel erläutert er sein Anliegen.

Herr Mussel, mit Ihrem Vortrag am 7. Oktober zeigen Sie, dass kulturpolitische Entwicklungen im historischen Kontext verstanden werden sollten. In wenigen Worten: Worum geht es Ihnen in dem Referat beim Niersteiner Geschichtsverein?

Constantin Mussel: Mein Vortrag zeigt auf, welche Bedeutung die Rheinauen für die Menschen der Vormoderne – also der Zeit bis ca. 1800 – hatten, nicht nur im herrschaftlichen Bereich – sie waren oftmals kaiserliche Inseln (auch der Kornsand) – sondern auch im wirtschaftlichen. Sie wurden systematisch angelegt, vergrößert und intensiv bewirtschaftet. Daher sollten sie als Kulturland und nicht nur als Naturland verstanden werden. Für den Weinbau der rheinhessischen Gemeinden erfüllten die Auen mit ihren Kopfweiden-Kulturen etwa wichtige Funktionen, wie im Vortrag deutlich werden wird. Mir geht es aber auch darum aufzuzeigen, wie wenig der Rhein früher eine Grenze war, sondern eher verbindender Raum. Es ist interessant zu sehen, wie stark hier Wandlungen in den letzten 200 Jahren Einfluss nahmen und wie willkürlich moderne Grenzziehungen teilweise waren oder sind. Mit Fokus auf das Spätmittelalter wird mein reich bebilderter Vortrag diese Themen exemplarisch am Kornsand und den umliegenden Rheinauen aufzeigen.

Sie betonen bereits in früheren Publikationen, dass die Rheinauen als Kulturlandschaft empfunden werden und in Netzwerke mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Herrschaft bzw.- Machtausübung einbezogen wurden. Warum war das so? War der Rhein keine natürliche Trennlinie?

Constantin Mussel: Nein, der Rhein war eben vor seiner Begradigung weniger Grenze, weder politisch noch naturräumlich. Vielleicht können wir das heute (2022) sogar wieder besser nachvollziehen, weil der Rhein seit Mitte August so wenig Wasser führte, dass man fast hindurchlaufen könnte. Vor der Begradigung war das ähnlich. So bewirtschafteten die linksrheinischen Gemeinden oftmals rechtsrheinische Auen, etwa den Kornsand, ganz selbstverständlich und führten ganze Kuhherden durchs Wasser auf Inseln. Das Heu wurde verschifft und von den rechtsrheinischen Auen bis in den Rheingau zum Kloster Eberbach geführt. Erst mit der Entstehung von Landesherrschaften mit mehr oder weniger geschlossenen Territorien im 15. und 16. Jahrhundert nahm man die Inseln in den Blick und versuchte sein jeweiliges Gebiet zu arrondieren. Es kam zwischen Kurmainz und Kurpfalz zu jahrhundertelangen Streitigkeiten um Auen und Inseln im Rhein. Hier ging es letztlich um Prestige – der Rhein war königliche Wasserstraße und die Inseln oftmals kaiserliche Lehen, die begehrt waren. Eine Aue zu besitzen war damals schon was! Ein solches Lehen verhalf Bürgern, etwa in stadtadlige Kreise in Mainz aufzusteigen und an den alten Landadel anzuschließen.

Gibt es noch heute Versuche, Grenzen zu überwinden, vielleicht sogar mit besten und nicht territorialen Absichten?

Constantin Mussel: Die Abgrenzungen politischer Natur sind eher Geschichte. Allerdings spürt man eine gewisse verwaltungstechnische Abgrenzung noch heute bei der Erforschung der Rheinauen, die mit ihrer Geschichte und der Lage zwischen zwei Bundesländern – Hessen und Rheinland-Pfalz – zu tun hat. So beschränken sich Publikationen, wissenschaftliche Arbeiten, Quellensammlungen oder online-Portale oftmals nur auf eine Rheinseite, statt die historische Region als Ganzes in den Blick zu nehmen, was sicherlich auch immer mit den Fördermitteln der jeweiligen Projekte in Zusammenhang steht. Hier überwindet meine „Auenforschung“ quasi Grenzen. Auch mein Engagement im Verein für Rheinhessische Geschichte versucht hier ein wenig Kompensation zu leisten, natürlich auch der Vortrag selbst in Nierstein.

Wenn es heutzutage weniger um Konflikt- und Streitfälle hüben wie drüben des Rheins geht, weil Besitzverhältnisse geklärt sind  – wie sehen inzwischen die zwischenmenschlichen Verbindungen zwischen Trebur und Nierstein aus? Was könnte vor allem in kultureller Hinsicht noch intensiviert werden?

Constantin Mussel: Die zwischenmenschlichen Verbindungen sind gut. Der Kornsand mit seinen Gaststätten oder Nierstein mit seinem breiten Angebot an Wein und Festen verbindet die Menschen, die gerne am Sonntag mal „rüber“ fahren. Die Verbindung von Geschichtsinteressierten aus Astheim und Nierstein, die letztlich meinen Vortrag in die Wege geleitet haben, stehen ebenfalls dafür. Wenn jetzt das gemeinsame Kornsandfest wieder gefeiert und ausgebaut werden würde, wäre ein weiterer Schritt getan. Die beiden zurückliegenden Feste haben schon viel bewegt – da geht aber sicherlich noch mehr.

Vom „verbindenden Zentrum einer ganzen Region“ bekommen leider die Wenigsten etwas mit, es sei denn, es gibt Niedrigwasser. Woran mag das liegen aus Sicht eines Historikers?

Constantin Mussel: Wer Naherholung am Rhein sucht, der bekommt schon mit, dass der Strom verbindet, etwa wenn Schiffe anlegen oder man in den Gaststätten ins Gespräch kommt. Aber natürlich haben die beiden zurückliegenden Jahrhunderte einiges dazu beigetragen, dass der Rhein tatsächlich auch Grenze wurde. Nicht nur die Rheinbegradigung, durch die der Fluss zu einer tiefen Fahrrinne wurde, sondern auch die Gründung der unterschiedlichen Bundesländer aus den Besatzungszonen nach dem Zweiten Weltkrieg. 

Und dann gab es ja auch noch die Franzosen, richtig?

Constantin Mussel: Ja, es war nicht zuletzt immer wieder französisches Bestreben, den Rhein als Grenze einzurichten. Ganz praktisch wiegt allerdings auch nicht gerade förderlich, dass es bei uns relativ wenige Möglichkeiten gibt, den Rhein zu passieren – die Kornsandfähre und die Weisenauer Brücke. Früher gab es rege Überfahrten per Nachen, so dass man auch bequem und schnell und an vielen Stellen den Rhein überqueren konnte, was bis in die 60er Jahre auch getan wurde, wie ich noch von meinen Urgroßeltern weiß. Ich glaube insgesamt schon, dass bei uns in Trebur schon der Blick immer auch ein bisschen zur anderen Rheinseite geht, vielleicht kommt das in Groß-Gerau und den weiter vom Rhein entfernten Orten nur nicht so deutlich an, sage ich mal mit einem Augenzwinkern.

Wäre eine (nicht nur symbolische) Brücke zwischen Kornsand und Nierstein wünschenswert und angesichts historisch gewachsener Bezüge vielleicht sogar angebracht, um genau jene Verbindungen sichtbar zu machen?

Constantin Mussel: Brückenbauen ist grundsätzlich immer gut, weil es Menschen verbindet und zusammenführet. Ob es eine Autobrücke sein müsste, die dann wieder mehr Verkehr bringt, möchte ich politisch nicht abschließend beurteilen. Wobei für mich klar sein müsste, dass es für eine solche Brücke eine direkte Anbindung an Bundes- und Autobahnen bräuchte und der Verkehr nicht durch Geinsheim führen könnte, wo dieser schon heute nicht erträglich ist. Zudem können große Bauwerke auch Natur- und Kulturland zerstören, daher ist Vorsicht geboten.

Das klingt, als hätten Sie eine andere Idee?

Constantin Mussel: Durchaus: Als ich neulich eine Auenführung auf der Maaraue gemeinsam mit dem Stadthistorischen Museum Mainz anbot, wurde mir die Wichtigkeit für Rad- und Fußgängerbrücken über den Rhein bewusst. In Mainz ist es selbstverständlich, abends eine Runde über die Brücken nach Kastel oder Kostheim zu joggen oder mit dem Rad zu fahren. Eine oder zwei Rad- und Fußgängerbrücken wären doch sicherlich mal ein spannendes Naherholungsprojekt, das die historischen Verbindungen wieder spürbar machen und die Menschen wirklich nachhaltig zusammenführen würde – nur wie finanzieren?

Vortrag in Nierstein: Am 7. Oktober um 19 Uhr im Haus der Gemeinde, Gutenbergstraße 11 (AWO-Begegnungsstätte Nierstein). Eintritt sieben Euro inklusive einer Brezel und einem Glas Wein oder Wasser.

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