Identität für die Region

Von Rainer Beutel.

Dass nahe Königstädten noch die mehr als 100 Jahre alte Opel-Rennbahn existiert, ist keineswegs allen Menschen dieser Region bekannt. Weitgehend überwuchert von Büschen und Bäumen fristet das Kulturgut bislang ein Schattendasein. Der Groß-Gerauer Carsten Ritter und der Rüsselsheimer Jürgen Pawolka kämpfen um den Erhalt und plädieren dafür, dass von dem Relikt mehr sichtbar wird. Gegenüber WIR-Redakteur Rainer Beutel erläutern Sie, auf welche Hindernisse sie dabei stoßen.

Herr Ritter, Herr Pawolka, seit Jahren kümmern Sie sich um den Erhalt der alten Opel-Rennbahn. Warum eigentlich? Was ist Ihr Anliegen?

Jürgen Pawolka: Im Jahre 2017 besuchte ich die Opel-Rennbahn das erste Mal. Kaum jemand konnte mir dazu etwas sagen, manche wussten nicht, wo die Bahn ist. Und das bei einem der wenigen eingetragenen Kulturdenkmäler dieser Stadt. Das verwunderte mich, machte mich neugierig und motivierte mich, diesen Umstand zu verändern. Seitdem hat sich viel getan, und ich freue mich, dass nun die Bahn in der Öffentlichkeit immer mehr an Bedeutung gewinnt und der Eigentümer ein Erhaltungs- und Nutzungskonzept erarbeitet. Das war die Mühe wert.

Carsten Ritter: Zum einen war ich früher beruflich in der Denkmalpflege bzw. Bauforschung tätig, um den kulturhistorischen Stellenwert der Anlage beurteilen zu können. Zum anderen fahre ich mit einem historischen Motorrad auf den ganz wenig verbliebenen Zement-Rennbahnen und Velodromen heute noch Rennen, weshalb ich die Faszination, die einst von diesen Rennstrecken ausging, sehr gut nachvollziehen kann.

Von wem werden Sie unterstützt – und von welchen Institutionen würden sich mehr Beistand wünschen?

Jürgen Pawolka: Unterstützung erfahren wir durch die vielen Menschen in Rüsselsheim und weit über die Grenzen hinaus. Das einstige Engagement, das durch den Einsatz des ehemaligen Rüsselsheimer Oberbürgermeisters Patrick Burghardt im Sommer 2017 begann, versandete im Rathaus geradezu nach seiner verlorenen Wiederwahl. Rechtlich müsste das Denkmalamt der Stadt Rüsselsheim die Stadt Mainz als Eigentümerin und Betreiberin eines Wasserwerks auf ihre Verpflichtung zum Erhalt des Denkmals aufmerksam machen und kontrollieren, dass Rüsselsheim dem nachkommt. Aber das Landesamt für Denkmalpflege in Wiesbaden zeigte lange Zeit nicht das Engagement, das wir uns erhofften. Von beiden Seiten haben wir die Aussage, dass jeweils der andere zuständig ist. Scheinbar kommt einer von beiden seiner Dienstverpflichtung nicht richtig nach. Ein starker Ansprechpartner im Rathaus könnte das klären, aber seit fünf Jahren wird dieses Thema in der Zuständigkeit verschoben.

Carsten Ritter: Obwohl es mehr als genügend Unterstützer bis hin zur Familie von Opel gibt, finanzieren wir bzw. ich grundsätzlich alles aus eigener Tasche, um unabhängig agieren zu können. Eine wirkliche Unterstützung würde ich nur bei den Verantwortlichen sehen, wenn diese endlich ihren gesetzlichen Aufgaben und ihrer Verantwortung nachkämen, was jedoch bewusst aus politischen Gründen nicht geschieht.

Geht es ihnen um finanzielle Zuwendungen oder um den ideellen Rückhalt, um Manpower oder um grundsätzliche Einstellungen?

Carsten Ritter: Es ist unsere grundsätzliche Einstellung: Wir wollen nicht einfach zusehen, wie aufgrund bewusster Vernachlässigung Bürger ihrer Kultur und eines Kulturdenkmals beraubt werden, auf das man vor Generationen noch mit Stolz und Achtung geblickt hatte. In den 1920er Jahren war dieser Ort der „Hot Spot“ des Motorrennsportes und über die Landesgrenzen hinaus bekannt.

Jürgen Pawolka: Ideellen Rückhalt haben wir durch die Fans der Bahn ohne Ende. Als wir mit dem Engagement begannen, hatten wir schnell fast 100 Unterschriften gesammelt, die sich für die Bahn ausgesprochen und uns ihr Engagement zugesagt haben. Das reichte von vielen Bürgern über Mitglieder der Alt-Opel IG und den vielen Opel-Fans bis zur Familie von Opel, egal ob das Carlo, Christoph oder Gregor von Opel ist. Mit allen stehen wir zwecks Erhalt des Projektes in Kontakt. Zusagen, selbst mit anzupacken oder gar finanzielle Zuwendungen zu erhalten, haben wir von allen erhalten. Da es primär um den Erhalt der Bahn geht, sprechen wir eigentlich nur über das Freihalten des Betons von Bewuchs.

Sie sehen die Opel-Rennbahn als Kulturgut, auch wegen der vielen (ehemaligen) Opel-Beschäftigten und ihrer Verbundenheit mit dem Werk. Aber erreichen Sie die Menschen überhaupt? Oder ist Ihr Ansinnen ein Hobby von Enthusiasten?

Carsten Ritter: Wir sehen unsere Aufgabe nicht als Zeitvertreib aufgrund von Langeweile, sondern möchten den Menschen und Interessierten wieder ein Stück Kultur und Identität in ihrer Region und des beruflichen Umfeldes zurückgeben. Das dies auch verstärkt zutrifft, sehen wir an den immer steigenden Anfragen nach unseren kostenfreien Führungen vor Ort. Immerhin ist die Opel-Bahn im Autoland Deutschland die erste und weltweit die dritte Rennbahn, die gebaut wurde. Sie bietet ein Alleinstellungsmerkmal sondergleichen – und wird doch übersehen.

Jürgen Pawolka: Zum einen erreichen wir viele Opel-Begeisterte, aber auch viele Bürger, die mit dem Hause Opel oder dem Automobil nicht so viel am Hut haben, sondern sich für die Geschichte dieser Stadt interessieren. Ebenso viele Naturbegeisterte, die das Areal aufgrund seiner herrlichen, stadtnahen und doch ruhigen Lage zu ausgedehnten Spaziergängen bis zu den Königstädter Streuobstwiesen oder dem Wüsten Forst nutzen. Hier verbindet sich die Stadt-Geschichte, das Wirken von Opel und die rasende Entwicklung der Technisierung des vorhergehenden Jahrhunderts mit der Befriedung des Menschen durch Ruhe und Naherholung. Das Areal ist ein Traum für einen kurzen und nahen Erholungswert, ähnlich einem Besuch der Fasanerie in Groß Gerau oder der Rüsselsheimer Festung.

Für Aufmerksamkeit sorgen sie unter anderem durch historisch animierte Videos und überregionale Medienberichte. Woran liegt es, dass der Bekanntheitsgrad der Opel-Bahn dennoch nicht so groß ist? Was muss noch geschehen?

Jürgen Pawolka: Wir sind eigentlich recht zufrieden mit dem mittlerweile stark gestiegenen Interesse. Waren Sie 2017 an der Bahn trotz der 2012 gebauten Besucherplattform noch recht allein, bilden sich dort heute an Sonn- und Feiertagen leichte Schlangen. Schätzungsweise 100 Personen besuchen die Bahn an solchen Tagen. Uns war wichtig, die Bahn wieder ins Bewusstsein zu bringen, und dies ist geschehen. Die Ankündigung der Eigentümerin, auch aufgrund des medialen Drucks, die Bahn nicht weiter verfallen zu lassen, ist ein riesiger Erfolg. In den vergangenen fünf Jahren hat allerdings der Zahn der Zeit an der Bahn genagt. Das hätte durch rechtzeitiges Engagement aller Beteiligten verhindert werden können. Wir hoffen, dass ein Nutzungskonzept, wie angekündigt, noch in diesem Sommer vorgelegt wird.

Carsten Ritter: Aufgrund der Wassergewinnung vor Ort ist es nicht unser Anliegen, dort ein Disneyland des historischen Rennsportes, verbunden mit einem Massenauflauf etablieren zu wollen. Wir überlegen uns stets neue Wege, wie man die Historie in die öffentliche Wahrnehmung rücken könnte. 2021 zum Beispiel ist die Strecke als virtuelle Rennsimulation wieder auferstanden, die jeder kostenfrei nutzen kann. Mit jeder Aktion in Verbindung mit Opel-Bahn steigt das Interesse.

Herr Ritter, Sie sind auch Mitgründer des historischen Radfahrvereins Groß-Gerau. Von der Kreisstadt bis nach Rüsselsheim scheint es indes sehr, sehr weite Wege zu geben. Was kann der Kreis Groß-Gerau tun, damit die Opel-Rennbahn nicht in Vergessenheit gerät?

Carsten Ritter: Die Opel-Bahn ist bereits seit 1987 eingetragenes hessisches Kulturdenkmal, was klare gesetzliche Verpflichtungen an die Stadt Mainz als Eigentümerin und die Stadtverwaltung stellt. Diese Verpflichtungen werden jedoch aus Inkompetenz und wirtschaftlicher Verflechtungen nicht konsequent eingefordert, was zu der Verwahrlosung der Anlage und zum Kulturraub für die Bürger geführt hat. Aus diesem Grund haben wir uns der Aufgabe angenommen, den Ort wieder ins kollektive Gedächtnis zurückzuführen.

Opel als Autobauer gibt es ja noch, aber nur als eine Firma unter vielen innerhalb eines großen Konzerns. Was können Sie von der Dachfirma Stellantis erwarten?

Jürgen Pawolka: Nichts. Selbst die Firma Opel war ja nur der Erbauer der Bahn und 30 Jahre Pächter des Areals. 1949 war der Pachtvertrag beendet, und die Fläche wurde nach Absprache mit dem Eigentümer so übergeben, wie sie war. Das Haus Stellantis in irgendeiner Form für die Opel-Rennbahn zu verpflichten, halte ich für den falschen Ansatz. Eher müsste aus eigenem Interesse die Motivation bestehen, der Welt zu zeigen: Schaut her, wir haben die erste und älteste befestigte Rennstrecke auf dem europäischen Kontinent. Außerdem ist die Opel-Rennbahn die einzige im Original bestehende Rennbahn dieser Zeit. Die Firma unterstützt uns immerhin durch die Opel-Classic-Sparte. Und nie war der Austausch so lebhaft wie in den vergangenen Monaten.

Welche Initiativen planen Sie in naher Zukunft vor, um ihre Vision populärer und noch erfolgreicher zu machen?

Carsten Ritter: Seit dem 100-jährigen Bestehen der Bahneröffnung 2019 veranstalten wir jedes Jahr zu einem historischen Datum, rückwirkend auf den Tag genau, eine Aktion. Weitere sind bis zum Jahr 2030 bereits fertig projektiert.

Jürgen Pawolka: Primäres Ziel ist der Erhalt der Opel-Bahn. Maximierung im Sinne von Besucherströmen war nie ein erklärtes Ziel. Schließlich handelt es sich bei dem Areal um ein Waldgebiet in einer Wasserschutzzone. Und wie wichtig für uns Menschen die Natur und das Trinkwasser ist, erklärt sich von selbst. Da wir keine geschäftlichen oder monetäre Ziele haben, um Erfolg in irgendeiner Zahl oder Bilanz zu messen, gibt es eigentlich keine strikten Visionen mit starrem Ziel. Wenn gezielt Gruppen die Bahn oder die Menschen das Areal aus Interesse an der Geschichte ihrer Stadt oder der Naherholung besuchen, ist unser Ziel, wenn man es so nennen will, eigentlich erreicht. Eines möchte ich allerdings noch erwähnen:

Wenn sich durch diesen Beitrag Menschen angesprochen fühlen, die Opel-Rennbahn anzusehen, habe ich eine Bitte: Bitte gehen Sie pfleglich mit der alten Dame um. Sie ist wie ein erwachendes Dornröschen, das lebt, aber nach 90 Jahren Schlaf benötigt sie etwas Pflege und Sorgfalt. Vielen Dank.

Zur Person: Jürgen Pawolka, 1968 in Hochheim am Main geboren, aufgewachsen in Mainz-Kostheim. wohnt seit zehn Jahren in Rüsselsheim, selbständig mit eigenem Handwerksbetrieb;
E-Mail: j.pawolka@pawolka.de

Carsten Ritter, 1971 in Groß-Gerau geboren und aufgewachsen, wohnt in der Kreisstadt, ist technischer Flugzeugeinsatzplaner bei einer deutschen Fluggesellschaft, war tätig in der Denkmalpflege, Bauforschung und Archäologie;
E-Mail: ritter-c@gmx.net

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