Der Groß-Gerauer Appell

Von Ulf Krone.
Mit dem Groß-Gerauer Appell wagen zahlreiche Menschen einen Aufruf zum Frieden für Gaza im Spannungsfeld zwischen Vereinnahmung und Staatsräson. Denn Kritik an israelischer Politik wird hierzulande viel zu oft mit Antisemitismus verwechselt oder dieser gezielt unterstellt. Andererseits wird solche Kritik auch gern von der radikalen Rechten vereinnahmt. Wie man mit solchen Gefahren umgeht und was konkret hinter dem Appell steckt, verrät einer der Initiatoren, Dr. Harald Braun, im Gespräch mit WIR-Redakteur Ulf Krone.
Sie sind einer der Initiatoren des in diesem Heft abgedruckten Groß-Gerauer Appells gegen den Krieg im Gaza-Streifen. Wie kam es dazu, und was wollen Sie damit erreichen?
Dr. Harald Braun: Als vor ein paar Wochen wiederholt Bilder von verhungernden Kindern in Gaza gezeigt wurden, war meiner Frau und mir klar, da können wir nicht länger tatenlos zuschauen. Spontan riefen wir Freunde und Freundinnen an und erhielten die gleichen Reaktionen. So entstand schließlich die Idee, einen Groß-Gerauer Appell zu verfassen und damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Menschen, die hinter dem Appell stehen sind Einzelpersonen ohne eine gemeinsame Organisationsform – weder Verein noch Partei. Sie haben sich einfach hinter die Formulierung des Appells gestellt und einen Beitrag für die Unkosten geleistet. Sie wollen damit klar zum Ausdruck bringen, dass wir nicht schweigen dürfen und auch unsere Politik in Deutschland kritisieren, die sich hinter dem Begriff Staatsräson versteckt. Und schlimmer noch, Waffen nach Israel liefert.
Wie erleben Sie die Reaktionen auf Ihre Initiative? Immerhin wird der Appell bereits von mehr als 100 Erstunterzeichnern unterstützt, darunter auch Bürgermeister Jörg Rüddenklau und Andrea Ypsilanti, ehemalige Fraktionsvorsitzende der SPD im Hessischen Landtag.
Dr. Harald Braun: Wir hatten einen sehr großen Zuspruch. Wenn wir nicht um mindestens 20 Euro von den Erstunterzeichnerinnen für Anzeigen, Handzettel und ähnliches gebeten hätten, wären noch mehr dabei gewesen. Die Reaktionen auf unseren Appell waren durchgehend positiv. Bestenfalls gab es Wünsche nach härteren Formulierungen. Der Appell ist so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner, und die Formulierung konnte nicht mehr verändert werden. Nachdem über 120 Erstunterzeichnerinnen gefunden waren, ist der Aufruf nun offen für weitere Privatpersonen und Organisationen, die sich solidarisieren wollen. Ein finanzieller Beitrag muss nicht mehr geleistet werden, Spenden sind jedoch weiterhin willkommen.
Kritik an Israel wird hierzulande allzu leicht unter den Generalverdacht des Antisemitismus gestellt, andererseits aber leider auch häufig von Antisemiten gekapert. Wie gehen Sie bezüglich des Appells mit dieser Problematik um?
Dr. Harald Braun: Wir verurteilen die menschenverachtende Politik von Netanjahu und seinen rechtsradikalen Spießgesellen, die die israelische Regierung stellen, auf das schärfste. Das ist aber keineswegs Kritik an Juden per se. Wir sehen ja deutlich, wie stark die innerisraelische Kritik am Vorgehen des Militärs in Gaza ist. Leider läuft man in Deutschland Gefahr, jede Kritik an Israel als Antisemitismus ausgelegt zu bekommen. Gegen diese Pauschalierungen wenden wir uns und lassen uns den Mund nicht verbieten. Ich habe mir im vergangenen Jahr einen Polieraufsatz für meinen Akkuschwingschleifer gekauft, mit dem ich regelmäßig Stolpersteine für von den Nazis vertriebene jüdische Mitbürger in Groß-Gerau poliere. So etwas tun Antisemiten nicht. Wir haben auch im Anschreiben zu dem Aufruf klargestellt, dass wir antisemitische Zungenschläge unbedingt vermeiden wollen.

Der Groß-Gerauer Appell im Wortlaut
Stoppt das Töten in Gaza! Wir können nicht länger schweigen.
Was am 7. Oktober 2023 geschah, war ein furchtbares Verbrechen. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel war grausam, brutal und menschenverachtend. Hunderte unschuldige Menschen wurden ermordet, Familien zerstört, Kinder verschleppt. Wer so etwas tut, stellt sich gegen jedes menschliche Miteinander. Wir verurteilen diesen Angriff mit aller Schärfe.
Das, was seitdem im Gazastreifen geschieht, ist ebenfalls ein Verbrechen. Und es geschieht Tag für Tag – mit Waffen, die auch aus Deutschland kommen. Hunderttausende Menschen in Gaza haben kein Zuhause mehr. Ganze Stadtviertel sind in Schutt und Asche gelegt. Krankenhäuser werden bombardiert. Kinder sterben unter Trümmern. Eltern tragen ihre toten Kinder durch die Straßen. Es fehlt an allem – Wasser, Strom, Essen, Hoffnung. Die meisten Opfer sind Zivilisten. Frauen, Männer, Alte, vor allem: Kinder. Wie viele tote Kinder brauchen wir noch, bis wir aufwachen?
Wir sagen klar: Das hat nichts mehr mit Selbstverteidigung zu tun.
Das ist eine Bestrafung eines ganzen Volkes – und das ist nicht hinnehmbar.
Deutschland hat eine besondere Beziehung zu Israel – aus guten Gründen. Unsere Geschichte verpflichtet uns! Unsere Geschichte verpflichtet uns auch, niemals wieder wegzusehen, wenn Unrecht geschieht. Auch dann nicht, wenn es von einem befreundeten Staat begangen wird.
Wer wirklich Freund ist, schweigt nicht, wenn dieser Freund sich verirrt. Wer wirklich an Israel glaubt, darf nicht zuschauen, wie es sich selbst und seine Werte zerstört. Es reicht nicht, Gräber zu zählen. Wir müssen dafür sorgen, dass keine neuen entstehen. Denn jedes tote Kind – egal ob israelisch oder palästinensisch – ist ein Kind zu viel.
Frieden beginnt mit einem Stopp der Gewalt.
Menschlichkeit beginnt mit einem Stopp des Wegsehens.
Gerechtigkeit beginnt mit einem Stopp der Waffen.
- Wir appellieren an die Hamas: Stoppen Sie den Terror, lassen Sie die Geiseln frei und kapitulieren Sie bedingungslos, um das Leid der Zivilbevölkerung zu beenden.
- Wir appellieren an die israelische Regierung: Beenden Sie den Rachefeldzug und stoppen Sie die Angriffe auf zivile Ziele.
- Wir appellieren an die Bundesregierung: Stoppen Sie sofort alle Waffenlieferungen an Israel! Setzen Sie sich mit allem politischen Gewicht für einen Waffenstillstand ein! Erheben Sie Ihre Stimme – nicht irgendwann, sondern jetzt!
Wir können nicht länger schweigen, sonst machen wir uns mitschuldig.
Mehr als 130 Menschen haben als Erstunterzeichner den Groß-Gerauer Appell unterschrieben. Jetzt können sich alle beteiligen: Online auf lamapoll.de
V.i.S.d.P. Alfred Harnischfeger, Franziska Schröder, Dr. Harald Braun
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