Bewusst leben – präzise schreiben

Von Siggi Liersch.
Wenn Sie auf der Suche nach einer eigenständigen Stimme in der Literatur sind, wenn Sie nicht nur auf äußere Handlungsstränge und auf dargestellte Aktionen Wert legen, wenn Sie etwas Unverwechselbares in der neueren deutschen Literatur als Lektüre suchen und wenn Sie auf poetische Präzision aus sind, werden Sie die Qualitäten der Erinnerungsarbeit von Peter Kurzeck, die sich in genauen Reflexionen und Beobachtungen zeigt, zu schätzen wissen. Und dann erst empfehle ich Ihnen, seine Bücher zu lesen.
Mit den genauen Beschreibungen des eigenen Lebensalltags ist Kurzeck ein Chronist seiner persönlichen Lebenserfahrungen. Er wurde 1943 im böhmischen Tachau, dem heutigen Tachov, geboren und kam nach Vertreibung und Flucht als Kind mit seiner Mutter nach Gießen (Hessen) und schließlich nach Frankfurt. Der Vater folgte aus russischer Kriegsgefangenschaft erst später. Knapp siebzigjährig ist Peter Kurzeck bereits 2013 gestorben und hat sowohl vollendete als auch fragmentarische Werke hinterlassen. Weshalb man ihn lesen sollte, ist seine verblüffend aktuelle Darstellung von Vertreibung und Flucht, von Krieg und ständigen Übergriffen, einer Entwicklung, die seit Jahren zum allgemeinen Menschheitsschrecken nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt geworden ist. Seinen Roman „Frankfurt – Paris – Frankfurt“ hat er schon 1995 vollständig abgeschlossen. Später sah er ihn als zehnten Band der Chronik „Das alte Jahrhundert“ vor. Aus dem Nachlass, herausgegeben von Rudi Deuble, ist es das erste vollendete Manuskript aus diesem Romanzyklus – und gleichzeitig das letzte, das erscheint. So schließt sich dieser Kreis. Als wäre der Roman ein Auftakt, der von den Wegen berichtet, die hier zum ersten Mal gegangen werden. Es ist der Abschluss von Kurzecks Chronik „Das alte Jahrhundert“.
Im Spätsommer 1977 kommen der Erzähler und seine Freundin Sibylle nach Frankfurt am Main. Sie sind seit drei Jahren zusammen. Peter arbeitet an seinem ersten Buch. Es ist eine Zeit der Anfänge und des Aufbruchs. Während Kurzeck darauf achtet, sowohl die Menschen als auch sich selbst wahrzunehmen, ist er in seinen alles registrierenden Texten ständig auf der Suche nach sich selbst. So auch in diesem Erinnerungsbuch, das in den Neunzigern entstand und zeitlich vor die Trennung von seiner Freundin Sybille angesiedelt ist, die er in vielen anderen Texten ebenfalls thematisiert. Es ist die Zeit des Deutschen Herbsts, die Zeit der Schleyer-Entführung und der Razzien. Auf einer Fahrt nach Frankreich, der Protagonist Peter und seine Freundin Sibylle werden kontrollmäßig an der Grenze zunächst festgehalten und können dann doch nach Paris weiterreisen, ein Gewitter, nachts ein Autounfall. Dann Paris, und der Himmel fängt an zu leuchten. Mit ihm die Bars, die Nächte, die Märkte, das Essen, französische Zigaretten und das Leben. In einem kenntnisreichen Nachwort erklärt Rudi Deuble die Bedeutung von Paris für Peter Kurzeck: „Paris aber war für ihn immer die besondere Stadt. Keine andere europäische Metropole besuchte er so oft, und über keine andere wird in seinen Romanen so häufig erzählt.“ Und auch „Frankfurt – Paris – Frankfurt“ ist durch seine monologische Erinnerung geprägt. Keine Einzelheit darf je vergessen werden. Das war die Maxime von Kurzecks Literaturauffassung. Seine Chronik des alten Jahrhunderts begann 1997 mit dem Roman „Übers Eis“. Es folgten „Als Gast“ (2003), „Ein Kirschkern im März“ (2004) und „Oktober und wer wir selbst sind“ (2007). Zwischen der Veröffentlichung der Teile sechs und sieben lagen das Ende des Stroemfeld-Verlags und der daraus resultierende Wechsel von Kurzecks Gesamtwerk zu Schöffling & Co. Für Peter Kurzeck war die intensive Beschäftigung mit dem Vergangenen das Monument für seine Erinnerungen.
Peter Kurzeck, Frankfurt – Paris – Frankfurt,
herausgegeben von Rudi Deuble,
Schöffling & Co., 2024, 288 Seiten, 28 Euro

arbeitet als Schriftsteller, Liedermacher und Kritiker in Mörfelden-Walldorf;
siegfried.liersch@gmx.de





