Büchertipps
Von W. Chr. Schmitt, Ralf Schwob, Siggi Liersch und Rainer Beutel.
Einen unterhaltsamen Abend bot einmal mehr das Stadtmuseum, wo der von WIR-Herausgeber W. Christian Schmitt und Museumsleiter Jürgen Volkmann erarbeitete „Literatur-Reader für Groß-Gerau und die Region“ vorgestellt wurde.
Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von Literatur-Kritiker Siggi Liersch, der diesmal als Liedermacher auftrat. Das Foto von Hans-Jürgen Pilgerstorfer zeigt (v.l.): Bürgermeister Erhard Walther, W. Christian Schmitt, Jürgen Volkmann und Ulrich Diehl, in dessen Verlag der „Literatur-Reader“ erschienen ist. Welchen Lesestoff Autoren aus dem Gerauer Land empfehlen, lesen Sie im folgenden:
Großer Lauschangriff
Von Ralf Schwob: „Das Ohr – Ein Märchen für Erwachsene und solche, die es werden wollen“, so lautet der komplette Titel des neuen Buchs von Paul-Hermann Gruner, in dem er den kleinen Paul auf einer Lichtung ein Ohr finden und, um es zu beschützen, mit nach Hause nehmen lässt.
Er redet mit dem Ohr und wundert sich nicht, dass es nicht antwortet, denn Ohren haben natürlich keine Münder. Gruner bettet seine Geschichte in skurrile Episoden ein, wir erfahren von Ohrenplantagen auf Madagaskar und lernen Pauls Lehrer kennen, einen nachdenklichen Mann, der lieber Fragen stellt als Antworten gibt und sprachliche Ausdrücke ständig auf ihren Wahrheitsgehalt hin abklopft. Weil Paul in das Wort „instinktiv“ immerzu ein zusätzliches „i“ (instinkitiv) mogelt, ermahnt er ihn: „Werfe mit den kleinen i nicht so um dich. Später gehen sie dir dann vielleicht aus, und du hast Problem beim Sprechen. Dann musst du ogottogott sagen, weil igittigitt nicht mehr geht.“ Es sind nicht zuletzt derlei sprachfindige Beobachtungen, die das Buch zu einem außerordentlichen Lesevergnügen machen.
Pauls sprachfindiger Lehrer hilft ihm auch am Ende, das Ohr wieder dorthin zu bringen, wo es hingehört, nämlich genau da, wo Paul es gefunden hat. Es handelt sich nämlich offenbar um ein Ohr, dessen Aufgabe es ist, das Gras wachsen zu hören.
Dass es sich bei der Erzählung um ein Märchen für Erwachsene handelt, merkt man spätestens auf den Seiten 21-25, weil dort ein Traum geschildert wird, der das ohnehin schon verschrobene Geschehen auf eine Metaebene hebt, die eher an Kafka als an die Brüder Grimm denken lässt.
Nicht unerwähnt bleiben darf, dass das Buch von Nicola Koch kongenial illustriert wurde, ihre Bilder von Ohrenbäumen (oder Baumohren?) spiegeln Gruners sprachlichen Duktus auf ganz hervorragende Weise. Das Buch, in dem ein Ohr im Mittelpunkt steht, ist also auch ein Augenschmaus.
PH Gruner/Nicola Koch: Das Ohr.
Ein Märchen für Erwachsene und solche, die es werden wollen. Justus von Liebig Verlag Darmstadt. ISBN 9783873904743. 24,80 Euro.
Ein ziemlich verwirrter Tag
Im Nachlass von Ror Wolf fand sich ein Konvolut mit unveröffentlichten Tagebüchern aus den Jahren 1966 bis 1996, die der Verleger Klaus Schöffling sorgfältig edierte und herausgab.
Aufzeichnungen aus dreißig Jahren, in denen Wolf weder sich selbst noch seine Zeitgenossen schont oder pfleglich behandelt. Er notiert offen und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen seine Ansichten zu Kollegen und Freunden, zu Weggefährten und Feinden. Er schreibt über seine zahlreichen Verleger, über Redakteure und den oftmals engstirnigen Literaturbetrieb. Als Leser wird man Zeuge einer sich entwickelnden Laufbahn, aber ob man diese wirklich als Karriere im herkömmlichen Sinn bezeichnen kann, bleibt dahingestellt, denn Ror Wolf ist trotz vieler Preise und Auszeichnungen auch heute noch, zwei Jahre nach seinem Tod, ein Geheimtip. Man erhält einen Einblick in unterschiedlichste Arbeitszusammenhänge. Wolf schrieb Prosa in einem immer erkennbaren Stil und Gedichte, in denen er strikt am Reim festhielt und somit die Gegenwartsliteratur nachhaltig und im besten Sinne eigenwillig belebte. Er verfasste Hörspiele, die zum Besten gehören, was die Audiokultur aufzuweisen hat, und er klebte Collagen, ebenso eigensinnig und surreal wie seine sonstige akribische Arbeit. In diesem Tagebuch kann man seine Erfolge wie auch die vermeintlichen Niederlagen aus nächster Nähe erleben und den Weg eines überaus phantasiereichen Schriftstellers mitverfolgen. Das im Schöffling Verlag vorliegende Gesamtwerk wird mit diesen unveröffentlichten Texten um bedeutende Aspekte eines Schriftstellerdaseins ergänzt und gibt mehr als nur eine erhellende Auskunft über Leben und Arbeitsalltag eines der großen Autoren der deutschsprachigen Literatur. Was erwartet den Leser? Man kann nicht jedes Buch jedem lesenden Menschen empfehlen, aber man sollte ihm einen Schriftsteller, der über einen eigenen deutlich erkennbaren Stil verfügt, näherbringen. Am besten, wir lassen Ror Wolf selbst sprechen: „Vier Tage später, fünf oder sechs Tage später. Letzte Reise nach F. Frau N. 19 Uhr. Sie erzählt schon beim Chinesen die Geschichte von ihrem Liebhaber, einem Architekten, der sie mit allerlei Liebenswürdigkeiten überschütte. Sie erzählt weiter und weiter und später, in ihrer Wohnung, erzählt sie erst recht weiter. Ich erzähle auch weiter. Sie sitzt neben mir und sagt: Darf ich Dir etwas Ernstes sagen? Aber ja. Ich habe keine Lust, mit Dir zu schlafen, und jetzt, sagt sie, müsse sie mich hinauswerfen, sonst werde sie doch noch mit mir schlafen. Ich fahre ganz zufrieden nach Hause. Kein Schnee. Zurückgekommen stürze ich mich in ein tiefes Bier, sauge an meiner Pfeife und schwimme ganz ruhig in ein anderes Leben hinein.“
Wolf war immer ein Unangepasster im Literaturbetrieb. Dementsprechend hatte er Geldprobleme, zog mehr als dreißigmal um und zog sich nach und nach desillusioniert aus dem Drumherum der Bücherwelt zurück. Seine Phantasien kreisten um Katastrophen, teilweise versehen mit einem grotesken Witz. Aber wenn wir heute Ror Wolf lesen, spüren wir, wie eng er sich an die Haut der Gegenwart schmiegte. Wenn wir unsere klimakatastrophale Corona-Zeit mit dem Ukraine-Krieg und dem Energienotstand betrachten, und das sind nur einige Aspekte unserer Realität, dann war Ror Wolf ein äußerst wirklichkeitsgetreuer Schriftsteller. Verwundert beschrieb er sein Leben und im Tagebuch erkennt man einen Humor, der vermeidet, sich zu schonen oder gar zu bemitleiden. Einem Leser, der sich durch diese Form angesprochen fühlt, kann ich die Tagebücher von Ror Wolf mit dem allerbesten Gewissen empfehlen. „Ich habe niemals versucht, eine Karriere zu machen. Ich habe lediglich versucht, so zu leben, wie ich es wollte. Das ist mir hin und wieder gelungen.“ Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf Ror Wolf. Es bleibt: Ror Wolf lesen.
Ror Wolf. Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie.
Tagebuch 1966 – 1996, Schöffling & Co., Frankfurt, 2022, 344 Seiten, 32,00 Euro
Die Erde grollt
Die in Trebur lebende Ulla Janascheck hat im Frühjahr Nauheimer Kindern die besondere Welt von Kräutern und allem, was am Wegesrand gedeiht, in einer Exkursion nähergebracht. Nun hat sie ihr neues Buch im Freya Verlag veröffentlicht.
Es handelt allerdings nicht von Kräutern und Pflanzen, sondern beschreibt unter dem Titel „Zeitweberin, die Heilkraft magischer Wege“, wie Menschen gemeinsam die Zukunft gestalten können. Das Mitmach-Buch erzählt von besagter Zeitweberin.
Zum Inhalt: Eine Ära endet. Die Zeitweberin ist unterwegs auf ihrer Reise durch das Lebensrad. Die Träume der Menschen flechten das Fadenwerk für ihr Gewand. Sie ist in Gefahr. Die alte Zeit stirbt, eine neue Zeit ist noch nicht gewoben. Mächtige Kräfte kämpfen und entwerfen irrige Wege. Durch zu viel Fremdes verlieren die Menschen das Vertrauen in ihre Träume. Der Webstuhl steht still. Die Zeit bewegt sich nicht weiter. Und die Erde grollt.
Corona-Pandemie, Krieg, Energiekrise – ihr Buch kommt passend. So bemerkt Ulla Janascheck, dass wir an einem Zeitpunkt zum Innehalten angekommen sind. Der Ausweg? Hüterinnen und Hüter der alten Pfade müssen mit den Menschen zusammenwirken. Die Rettung der Zeitweberin führt zurück in eine persönliche Geschichte. Die interaktive Erzählung bindet Leser ein. So entsteht ein Buch im Buch, eine Entdeckungsreise. Mit neuen Schritten in eine friedliche Welt.
Ulla Janascheck, Zeitweberin.
Die Heilkraft magischer Wege, Freya Verlag, ISBN 978-3-99025-445-5