Exklusiv: Das Präsidium
Von Ralf Schwob.
Ein verzweifelter Ex-Banker versteckt in der Groß-Gerauer Neubausiedlung „Am Zuckerwerk“ eine Tasche mit brisantem Inhalt. Währenddessen gerät seine Frau beim Joggen in der Fasanerie auf Abwege und sein Sohn bricht nachts in das abbruchreife Oberstufengebäude am Wasserturm ein. Was das alles mit dem alten Frankfurter Polizeipräsidium und einem Drogenkurier zu tun hat, der in dem leerstehenden Gebäude sein Unwesen treibt, erfährt man in Ralf Schwobs jüngstem Krimi „Das Präsidium“. Erneut erzählt der Groß-Gerauer Autor eine spannende Geschichte mit viel Lokalkolorit und überraschenden Wendungen. Am 29. Oktober stellt Ralf Schwob seinen neuen Roman mit einer Lesung im Stadtmuseum in der Kreisstadt vor. Beginn ist um 19 Uhr, der Eintritt ist frei. Schon jetzt können Sie hier einen Auszug aus dem Roman exklusiv lesen:
Strasser-Block
Udo Jaruzelski würde einen Spaziergang zur Tankstelle machen müssen, wenn er den Tag nicht komplett rauchfrei verbringen wollte. Die Sauferei hatte er auf ein Minimum heruntergefahren, das Kiffen aufgegeben und von härteren Sachen ließ er sowieso schon seit jeher die Finger – verticken ja, konsumieren nein, das war seine Devise, mit der er immer gut gefahren war.
Gut gefahren hieß in seinem Fall allerdings nur, dass er mit Ende vierzig noch am Leben und kein totales Wrack war. Die Träume vom schnellen Geld, von teuren Autos und einer Luxuswohnung voller Playboy-Häschen hatte er sich seit seiner Jugend zwar bewahrt. Aber mit Ende vierzig, einem ansehnlichen Vorstrafenregister und einem kleinen Schuldenberg musste er sich eingestehen, dass diese Träume eben Träume bleiben würden.
Udo sah aus dem Fenster seiner Einzimmerwohnung im vierten Stock des Strasser-Blocks: der Himmel war blau, die Sonne schien, der Parkplatz zwischen Netto und Drogeriemarkt war wie leergefegt. Er hoffte, dass die Tankstelle am Autohaus, die sich ein Stück weiter die Straße hinunter am Ortsausgang befand, heute am Feiertag geöffnet hatte, sonst musste er bis rüber zum Bahnhof laufen und darauf hatte er nicht die geringste Lust.
Auf dem Weg zur Tanke fiel ihm der Termin bei seinem Bewährungshelfer wieder ein. Der gute Mann war restlos begeistert von Udos Sozialprognose, und alles nur, weil er sich auf den miesen Job als Paketfahrer eingelassen hatte, seine Miniwohnung nicht verwahrlosen ließ und sich niemand über ihn beschwerte. Außerdem besuchte er im Rahmen eines Präventionsprojekts Brennpunktschulen und berichtete dort von seinem verkorksten Leben. Im Grunde genommen diente er als abschreckendes Beispiel, auch wenn es derart unverblümt niemand sagte. Sein Bewährungshelfer meinte jedenfalls, er gebe der Gesellschaft damit etwas zurück, und Udo musste zugeben, dass das nicht das schlechteste Gefühl war.
Vor der Tankstelle standen Autos an den Zapfsäulen, der Werbeaufsteller mit den Eissorten war vor dem Eingang zum Laden platziert. Er war überrascht über den Ansturm, eine kleine Schlange hatte sich vor dem Tresen gebildet. Offenbar akzeptierte das Girogerät die EC-Karte eines Kunden nicht, was den Betrieb aufhielt.
„Versuchen Sie es bitte noch einmal, das gibt es doch gar nicht!“, empörte sich der Mann und die sichtlich gestresste Verkäuferin unternahm einen neuen Versuch.
Zwei Motorradfahrer in schwarzen Lederkombis warteten dahinter geduldig, ein älteres Ehepaar zählte schon mal passend Bargeld ab. Zwischen den Regalen mit den Süßigkeiten und Souvenirs strolchte ein vielleicht zehnjähriger Junge herum, der zu niemandem zu gehören schien. Er nahm einen Beutel Chips in die Hand, sah zum Verkaufstresen hinüber, legte ihn wieder zurück und schlich einen Gang weiter. Vor der Wand mit den Autoartikeln blieb er stehen, wieder ging sein Blick zum Tresen, wo man es mittlerweile mit einer anderen Karte probierte.
Der Junge nahm einen der Duftbäume vom Haken und sah ihn sich von allen Seiten an. Er war so damit beschäftigt, die Verkäuferin im Blick zu behalten, dass er Udo gar nicht bemerkte. Der Chemie-baum wanderte unter das T-Shirt des Jungen, und da fasste Udo ihn sanft an die Schulter und legte einen Finger an die Lippen, als der Junge sich mit vor Schreck geweiteten Augen zum ihm umdrehte. Der Kleine hatte sämtliche Anfängerfehler gemacht, die man sich nur denken konnte. Udo fragte sich auch nicht, was der Junge wohl mit einem Duftbaum wollte. Es ging nicht um den blöden Chemiebaum, das ging es nie, es ging einzig und allein ums Klauen. Vielleicht warteten draußen auch ein paar seiner Kumpels, denen er etwas beweisen wollte. Vielleicht war ihm auch einfach nur langweilig. Die Gründe, warum ein Kind zu klauen anfing, waren manchmal furchtbar banal. Niemand wusste das besser als er.
Udo ging in die Knie und sah den Jungen an, der jetzt Tränen in den Augen hatte. „So, und jetzt häng ihn wieder hin, okay?“
Der Junge nickte, gehorchte sofort und sah Udo danach beifallsheischend an.
„Verschwinde, aber schnell.“
Das ließ sich der kleine Dieb nicht zweimal sagen. Mit ein paar schnellen Sprüngen war er aus dem Verkaufsraum verschwunden. Die Frau am Tresen hatte von der ganzen Aktion nichts mitbekommen.
Udo kaufte seine Zigaretten und verließ das Kassenhäuschen. Die freie Zeit des Feiertags lag vor ihm und wollte irgendwie ausgefüllt werden, aber Udo fiel außer Rauchen nichts ein. Er machte sich auf den Weg zurück zum Block. Seit er wieder in seinem Heimatort war, hatte er kaum Leute von früher getroffen und diejenigen, die er getroffen hatte, wollten mit ihm nichts zu tun haben. Udo hatte keine Lust auf seine enge Wohnung, in der er ohnehin nur wieder auf der Klappcouch vor dem Fernseher den freien Nachmittag verdämmern würde. Stattdessen lief er die Frankfurter Straße entlang der Einfamilienhäuschen weiter hinunter, bis er an einen unter Bäumen gelegenen Spielplatz kam, der außer ein paar Schaukeln, einem Sandkasten und einem Klettergerüst, von dem die Farbe abblätterte, nicht viel zu bieten hatte. Er zündete sich eine Zigarette an und ließ sich damit auf der Schaukel nieder, außer ihm war niemand hier, also würde sich auch niemand darüber beschweren, dass er auf einem Kinderspielplatz qualmte.
Udo schloss die Augen, schaukelte ein wenig hin und her und hörte das Rauschen der Autobahn, der Zubringer zur A67 befand sich direkt vor der Siedlung. Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich etwas verändert. Der Junge aus der Tankstelle saß auf dem Klettergerüst und schaute zu ihm herüber. Als er bemerkte, dass Udo ihn gesehen hatte, sprang er herunter und kam auf ihn zu.
„Na?“, sagte Udo. Der kleine Möchtegerndieb trug löchrige Jeans und schmutzige Turnschuhe.
„Haste mal ‘ne Kippe?“
„Kannst du denn schon rauchen? Klauen kannst du jedenfalls nicht.“
Der Junge verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Ach, fick dich doch!“
Udo schüttelte den Kopf und der Kleine dampfte ab. Es war ein gutes Gefühl, der Gesellschaft mal wieder etwas zurückgegeben zu haben, auch wenn es am Ende wahrscheinlich nur ein stinkender Chemiebaum war.
Ralf Schwob. Das Präsidium. Societäts Verlag 2021. ISBN 978-3-95542-410-7. € 15,00
© Societäts Verlag. Abdruck mit Genehmigung des Verlags.