Gefährliche Sprache
Von Ulf Krone.
„Die Sprache, die sich frei betätigen darf, dient allen menschlichen Bedürfnissen, sie dient der Vernunft wie dem Gefühl, sie ist Mitteilung und Gespräch, Selbstgespräch und Gebet, Bitte, Befehl und Beschwörung.
Die LTI dient einzig der Beschwörung. […] Die LTI ist ganz darauf gerichtet, den einzelnen um sein individuelles Wesen zu bringen, ihn als Persönlichkeit zu betäuben, ihn zum gedanken- und willenlosen Stück einer in bestimmter Richtung getriebenen und gehetzten Herde, ihn zum Atom eines rollenden Steinblocks zu machen. Die LTI ist die Sprache des Massenfanatismus.“ (Victor Klemperer)
LTI, Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reichs, nannte der deutsche Philologe Victor Klemperer – manch einem bekannt aus der zwölfteiligen deutschen Fernsehserie „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“, einer Verfilmung seiner Tagebücher – die Sprache der Nationalsozialisten im gleichnamigen Buch. In dieser Sprache wurden Begriffe umgedeutet, in Beschlag genommen und zur Fanatisierung der Massen benutzt, und es wurden „Kampfbegriffe“ gesetzt, die heute vermutlich mit einem Hashtag (#) gekennzeichnet wären. Denn auch wenn das Dritte Reich auf viele wie ein ferner Alptraum wirken mag, so sind die Mittel und sogar die Ziele der Demokratiefeinde die gleichen geblieben. Wenn Victor Klemperer in seinem berühmtesten Werk als Beispiele für das nazistische Vokabular Begriffe wie etwa „tödliche Gleichmacherei“, „Auflösung“, „Unterhöhlung“ und „Entwurzelung“ nennt, so muss man unweigerlich an moderne Entsprechungen wie „Wokeness“, „Cancel culture“, „Bevölkerungsaustausch“, „Sozialtourismus“ oder „Impfdiktatur“ denken, die „Kampfbegriffe“ der Neurechten und Verschwörungstheoretiker. Sie alle arbeiten mit dem simplen, aber effektiven Mittel des Einhämmerns, wie es Victor Klemperer nannte, sprich: der andauernden Wiederholung. Denn „…Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. […] Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein.“
Die Auswirkungen dieser letztlich selbst- und Massen-suggestiven Technik, deren religiöse Form das Mantra im Hinduismus ist, zeigt sich nicht bloß am Beispiel vom Märchen von der gestohlenen Wahl, das Donald Trump in den USA nicht müde wird zu erzählen. Umfragen zufolge ist inzwischen gut ein Drittel der Amerikaner derselben Meinung. Bei uns sind es die Neurechten mit dem Aufwärmen alter rassistischer Erzählungen, die Verschwörungstheoretiker mit ihren kruden Dystopien und die Esoteriker mit ihren sektiererischen Heilsversprechen, die sich derselben Technik bedienen und die sprachliche Nähe zur LTI suchen. Gleichzeitig werden in medial aufgeplusterten Debatten die Empfindlichkeiten überempfindlicher Gesellschaften mit ganz ähnlichen Mitteln verbreitet, ganz so, als könnten Worte das Handeln ersetzen.
Demagogen gibt es noch immer, und sie sind überall. Bleiben wir also wachsam – mit dem, was wir sagen, und dem, was wir tun. Doch vor einer „Sprachpolizei“ brauchen wir keine Angst zu haben. Die gibt es nämlich nicht, höchstens selbsternannte Möchtegern-Sprach-Sheriffs.
Victor Klemperer
LTI. Notizbuch eines Philologen.
Reclam Verlag, 416 Seiten, 13 Euro