Ich will es nicht wissen!

Von Anette Welp.

Vor fünf Tagen war ich bei einer Bekannten eingeladen, die ich über eineinhalb Jahre nicht mehr gesehen habe. Nach der großen Wiedersehensfreude trat plötzlich ein unangenehmes Schweigen ein, gefolgt von ihrem tiefen Blick und als Krönung ein erlösendes: „Ich hab‘s hinter mir.“

Ich war ganz erschrocken. Mein Herz stockte. „Was hast du hinter dir?“, fragte ich und konnte mir so gar nichts vorstellen, was sie denn hinter sich haben könnte: Jobwechsel, Krankheit, Scheidung, Psychotherapie, Wechseljahre. Die Bekannte grinste breit, schob ihren linken Blusenärmel hoch, der einen dicken geschwollenen Arm preisgab und sagte voller Stolz: „Ich bin geimpft.“

Neulich saß ich beim Optiker. Neben mir eine Frau, die meinen Blickkontakt suchte. „Ich habe so große Angst mich anzustecken. Aber ich bin schon geimpft.“ Vor lauter Schreck machte ich fünf Schritte rückwärts und fiel fast in den Brillenständer.

Vergangene Woche stand ich am rechten Schalter meiner Bank. Der Mann neben mir am linken Schalter drehte sich in meine Richtung und rief mir zu: „Ich bin schon geimpft.“ „Bitte setzen Sie trotzdem Ihre Maske auf!“, schimpfte die Bankangestellte hinter der Glaswand.

Gestern betrat ich die Metzgerei. Neben mir gab eine ältere Frau ihre Bestellung auf. Als sie fertig war, wandte sie sich völlig unvermittelt in meine Richtung und posaunte durch den ganzen Laden: „Ich bin schon zweimal geimpft.“

Sagen Sie mal, was ist eigentlich los? Warum erzählen mir alle, dass sie geimpft sind? Glauben Sie, dass ich das wissen möchte? Als gäbe es keine anderen Themen mehr! Wie wäre es mit: „Wunderschön, dass die Sonne scheint!“ oder einem einfachen „Guten Tag!“. Oder soll diese „Ich bin schon geimpft“-Information eine Solidaritätsbekundung sein? Oder ist es gar eine Aufforderung an mich, zu erklären, ob ich auch geimpft bin? Glauben Sie, dass Sie das etwas angeht, ob ich geimpft bin oder nicht? Ach, das glauben Sie wirklich? Dann muss ich Ihnen diesen Zahn ziehen! Tut es nämlich nicht. Diese Impfung beruht nach wie vor auf Freiwilligkeit. Es interessiert mich tatsächlich nicht, wer geimpft ist oder nicht. So wie es niemanden etwas angeht, ob ich geimpft bin, gegen was auch immer! Es geht Sie einfach nichts an.

Ich will auch nicht wissen, ob Sie vegan oder vegetarisch essen, um die Massentierhaltung zu stoppen. Ich will auch nicht wissen, ob Sie männlich, weiblich, divers oder offen sind. Ich will auch nicht wissen, welcher religiösen Gemeinschaft Sie angehören oder welche politische Gesinnung Sie haben. Alles das und noch viel mehr geht mich nichts an.

In erster Linie möchte ich Sie als einen in jeder Hinsicht verantwortungsbewussten, empathischen und toleranten Menschen sehen, dessen Grenzen ich respektiere und von dem ich erwarte, dass er auch meine Grenzen respektiert. Über ein freundliches „Guten Tag“ oder von mir aus „Guude wie?“ freue ich mich wirklich! Und diese Frage beantworte ich Ihnen sogar.

Anette Welp
ist Autorin, Verlegerin sowie Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte in der Treburer Gemeindeverwaltung;
augenauf.welp@t-online.de

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