Rädchen oder Zünglein
Von Melanie Wegling.
Abgeordnete im Deutschen Bundestag werden oft mit hohen Erwartungen konfrontiert. „Stoppen Sie den Krieg!“, „Retten Sie das Klima!“, „Bauen Sie mehr Wohnungen!“ – auch in meinem Abgeordnetenbüro treffen täglich Bürgerbriefe mit entsprechenden Forderungen ein. Doch wie erreicht man solche politischen Erfolge im Bundestag?
Ich freue mich über das Vertrauen, das die Bürgerinnen in mich setzen, wenn sie mir von ihren Anliegen berichten. Viele Forderungen könnte ich auch sofort unterschreiben. Doch wieviel Macht und Möglichkeiten hat eigentlich jedes einzelne Mitglied im Deutschen Bundestag? Wie schafft man es als eine von 736 Abgeordneten, politische Erfolge zu feiern? Metaphorisch gesprochen: Wie wird man vom Rädchen im Getriebe zum Zünglein an der Waage?
Im dritten Jahr seit meinem Einzug in den Deutschen Bundestag 2021 ist es endlich so weit: Finanzminister Christian Lindner hat zugesagt, die Abschaffung der Steuerklassen III und V im diesjährigen Jahressteuergesetz aufzunehmen. Noch vor der parlamentarischen Sommerpause soll das Gesetz auf den Weg gebracht werden.
Für mich persönlich ist das ein großer politischer Erfolg. Wie ist es dazu gekommen? Wie konnte ich als einzelne Abgeordnete den Stein ins Rollen bringen? Gleich zu Beginn der Legislaturperiode durfte ich mir aussuchen, in welchen Bundestagsausschüssen ich zukünftig tätig sein wollte. Ich wählte den Finanzausschuss. Denn ein gerechtes Steuersystem und die finanzielle und steuerpolitische Gleichstellung von Frauen sind mir sehr wichtig. Von Anfang an hatte ich dabei auch ein politisches Ziel im Blick: die Reform unseres völlig antiquierten Steuersystems aus den 1950er Jahren und die Abschaffung der Steuerklassen III und V.
Warum ist die Abschaffung der Steuerklassen III und V so wichtig? Zuallererst: Niemand hat weniger Geld durch die Abschaffung der Steuerklassen III und V. Es geht allein um eine gerechtere Verteilung der Steuerlast zwischen den beiden Ehepartnern, wenn sie bisher die Steuerklassen III und V gewählt haben. Denn momentan trägt die Person die höhere Steuerlast, die das geringere Einkommen hat. Das ist ungerecht. Denn so bleibt vom geringeren Gehalt noch weniger Netto übrig. Und in den meisten Ehen trifft das die Frauen.
Wie jede Ungerechtigkeit hat auch diese fatale Folgen: Der Blick auf den Lohnzettel suggeriert Frauen, ihre Arbeit sei weniger wert. Das ist nicht nur psychologisch demotivierend, das kann sich auch auf das Machtverhältnis in Beziehungen auswirken. Außerdem bleiben Frauen so eher in Teilzeit oder reduzieren ihre Stunden noch. Das können wir uns schon allein wegen des Fachkräftemangels nicht leisten. Darüber hinaus ist es aber auch ein Problem für die finanzielle Unabhängigkeit und Gleichstellung von Frauen, das bis zur Altersarmut führen kann.
Ein Steuersystem, das finanzielle Abhängigkeit, Fachkräftemangel und Altersarmut fördert, sozusagen staatlich verordnete Diskriminierung auf dem Lohnzettel? Kein Wunder, dass die Abschaffung der Steuerklassen III und V bereits im Koalitionsvertrag vereinbart worden war. Doch anpacken wollte das Thema erst einmal keiner.
In meinem Wahlkreis Groß-Gerau kam ich mit Frauen, Familien und Unternehmern ins Gespräch, die das Arbeiten für Frauen attraktiver machen wollten und mir für mein politisches Ziel den Rücken stärkten. Ich begann, das Thema immer wieder auf die Agenda im Finanzausschuss zu setzen. Ich holte mir Unterstützerinnen ins Boot, wie die Parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium und andere Fachpolitikerinnen aus den Bereichen Familie und Finanzen. Ich suchte den Austausch mit Finanzexpertinnen, Stiftungen und Unternehmen und führte Fachgespräche zur konkreten Umsetzung mit dem Finanzministerium. Bei jeder Gelegenheit erwähnte ich das Thema im Finanzausschuss und drängte auf die Umsetzung bei den Koalitionspartnern. Sogar beim Bundeskanzler sprach ich das Thema an, forderte die Umsetzung ein und erörterte den zeitlichen Rahmen.
Nun ist es endlich so weit: Mit dem in Kürze zu erwartenden Parlamentsbeschluss wird die Abschaffung der Steuerklassen III und V zum Gesetz. Die technische Umsetzung der automatischen Umstellung der Steuerklassen wird noch einige Jahre dauern. Doch werde ich mich auch hier tatkräftig dafür einsetzen, dass der Prozess nicht absichtlich verlangsamt wird. Übergangslösungen müssen gefunden werden für Lohnersatzleistungen wie Elterngeld, Krankengeld oder Arbeitslosengeld, wenn sie auf Basis des Nettolohns errechnet werden, so dass keine Leistungsminderungen entstehen. Und schließlich gilt es, die Menschen darüber zu informieren, was sich ändern wird und was sich dadurch verbessert.
Das Beispiel der Steuerklassenreform zeigt, wie man zum Zünglein an der Waage wird: Wunder schafft man so auch nicht, aber mit Beharrlichkeit und der nötigen Unterstützung durch andere kann man auch als eine von 736 Abgeordneten wichtige politische Erfolge erreichen.