Vom Jagatee zur heißen Geige
Von Werner Wabnitz.
„I steh‘ am Gipfel, schau runter ins Tal, ein jeder ist glücklich, jeder fühlt sich wohl und will nur Schifoan“, es sind die Textzeilen des bekannten Schifoan-Liedes von Reinhard Fendrich, die mir in diesem Moment durch den Kopf gehen. Eine Wintersportgeschichte des Groß-Gerauer FC Licher Stammtisch.
Aber nein, wir sind nicht im Stubaital oder in Zell am See. Hinter uns erhebt sich der Gipfel des Kitzbühler Horns und vor uns geht der Blick zum malerischen Gebirgsmassiv des Wilden Kaisers. Wir, mein Freund Gerhard und ich stehen am Zielhang der 7er Abfahrt von Oberndorf und es ist uns jetzt bewusst, dass wir auf eine 45-jährige Skigeschichte blicken. Es war im Jahr 1977, als uns die Leidenschaft für die langen Bretter erfasst hatte und genau an dieser Stelle wir unsere – noch etwas zaghaften – Schwünge in den Schnee zauberten. Skifahren in Oberndorf hieß und heißt es bis heute für uns zwei „Gerer“, von Geschichten zu erzählen, die auf dem Tauwiesenhang oder auf der Bassgeigeralm entstanden. Damals waren wir junge aufstrebende Burschen, die noch nicht wussten, was das Leben mit ihnen noch vorhatte. 45 Jahre später stehen die beiden aktiven Rentner-Banker gemeinsam am Skihang und freuen sich auf die Zieleinfahrt, wo ihre Frauen und Licher-Freunde mit bunten Pompons ihnen einen lautstark jubelnden Empfang bereiten. Die Gäste auf der Stadl-Terrasse wundern sich schon ein wenig, dass die etwas „reiferen“ Cheerleader für so viel Stimmung sorgen und wenig später ihre Männer umarmen, die es sich nicht nehmen lassen wollten, noch einmal gemeinsame Erinnerungen aufleben zu lassen.
Es war die Zeit von „Gold-Rosi“ Mittermeier und des österreichischen Abfahrts-Olympiasiegers Franz Klammer. Auch wir wollten einmal die „Streif“ in Kitzbühel meistern oder durch den Ganslern-Hang wedeln. Oberndorf ist nur wenige Kilometer vom mondänen Skiort am Hahnenkamm entfernt und bei weitem nicht so teuer. Für unsere Träume übernachteten wir 1977 noch in einer kleinen Pension, während wir uns 45 Jahre später den Luxus eines 4-Sterne-Hotels direkt am Lift leisteten.
Der Ski-Virus von 1977, ausgelöst durch den Nauheimer Skiclub, dessen Mitglieder seinerzeit regelmäßig in Oberndorf zu Gast waren, erfasste schon ein Jahr später die FC Licher-Stammtischgemeinschaft. Es waren die tollen Geschichten, von denen Gerhard und ich an den Freitagabenden in der Gerer „Licher Stube“ berichteten. Fast der gesamte Stammtisch samt Freundinnen machte sich im März 1978 nach Oberndorf auf, um sich auf dem für Anfänger geeigneten Tauwiesenhang mit dem weißen Sport anzufreunden. Einigen gefiels, anderen nicht, doch allen gefiel das „Apres Ski“, bevorzugt auf der Bassgeigeralm. Auf über 1.000 Meter Höhe erlebten die Flachländer aus dem Rhein-Main-Gebiet die Wirkung des „Jagatees“, der die Grundlage von zahlreichen Geschichten war, die 45 Jahre später noch immer für viel Heiterkeit sorgen.
Von Oberndorf aus zogen viele Stammtischmitglieder in den nächsten Jahren in Welt des Wintersports. Ob am Arlberg, in den Dolomiten oder den Rocky Mountains der USA, überall entstanden neue Skifahrer-Geschichten, bevor es auch für die letzten Enthusiasten der FC Licher-Stammtischler mit zunehmendem Alter ruhiger wurde.
Seit einigen Jahren sind die Wintertage am Kitzbühler Horn fest im FC Licher-Jahresprogramm verankert. Das Skifahren steht nicht mehr im Vordergrund, viel mehr das gemeinsame Wintererlebnis und hin und wieder die Erinnerung an die alten Zeiten. Vorbei sind die Zeiten von ungestümen Abfahrten, deren Ausgangspunkte auf dem Penzing-Gipfel 1977 noch mit einem Einer-Sessellift erreicht wurden. Heute geht’s mit einer modernen Umlauf-Gondelbahn in die Höhe, aber noch immer nutzen die Licher-Skifreunde den beliebten Einkehrschwung auf der Bassgeigeralm. Statt „Jagatee“ genießt man dort heute eine „heiße Geige“, bevor es auf die stets letzte Abfahrt der „6a“ geht, von der einige Licher-Stammtischler behaupten: „Die können wir auch nachts blind fahren“. Einige haben es versucht und so für neue Stammtischgeschichten gesorgt.