Das Judentum im Kreis

Von Ulf Krone.
Vor 148 Jahren, am 6. Dezember 1877, wurde von der kleinen jüdischen Gemeinde in Erfelden, die zu jener Zeit acht Familien umfasste, eine eigene Synagoge in der Neugasse 30 (heute Neugasse 43) geweiht. Es war ein ehemaliges Backhaus, das Anfang der 1860-er Jahre vom Stockstädter Zimmermeister Michael Kabey für den Erfeldener Heinrich Maul erbaut worden war. Gut ein halbes Jahrhundert blieb die Synagoge Mittelpunkt des religiösen Lebens der Gemeinde, deren Angehörige zuvor den Gottesdienst im benachbarten Wolfskehlen besucht hatten, bevor das jüdische Leben in Erfelden, der Region und im gesamten Land durch das Wüten der Nationalsozialisten ausgelöscht wurde.
Die Geschichte der Erfeldener Juden und ihrer Synagoge, für die die Gemeindemitglieder fast 7.000 Mark aufgebracht hatten, um das ehemalige Back- zum Gotteshaus umzubauen, ist bloß eine von vielen Geschichten jüdischen Lebens in der Region, aber auch im ganzen Land. Sie steht allerdings auch exemplarisch für den Umgang mit Menschen jüdischen Glaubens, die etwa im heutigen Kreis Groß-Gerau mindestens seit dem Mittelalter siedeln. Bereits im 14. Jahrhundert wurde von den jüdischen Einwohnern Groß-Geraus Geld erpresst, sie mussten das sogenannte „Judengeld“, eine Sonderabgabe für die Andersgläubigen, entrichten. Auch regionale Vertreibungen gab es schon früh, etwa im 17. Jahrhundert, als drei jüdische Familien aus Groß-Gerau vertrieben wurden und sich in Pfungstadt niederließen.
Letztlich ist Antisemitismus immer religiöser Natur, es ist eine Sache des Glaubens, egal ob er aus christlicher, muslimischer oder rechtsradikaler, neo-nazistischer Richtung kommt. Denn im Kern geht es stets darum, Andersgläubige zu bekämpfen, da Glauben nicht verhandelbar ist, es handelt sich schließlich nicht um objektives Wissen, wo es zumeist wahr und unwahr gibt. Die Anhänger jeder Religion glauben, im Besitz der einzig gültigen Wahrheit zu sein, die jedoch nicht bewiesen, sondern eben nur geglaubt werden kann. Glauben andere Menschen an etwas anderes, wird dies zwangsläufig als Angriff auf die Wahrheit und den eigenen Glauben gesehen. Dann versichert man sich in der eigenen Gruppe der Richtigkeit des eigenen Glaubens und erklärt die Anderen zu Andersgläubigen oder gar Ungläubigen, Feinden des Glaubens und der vermeintlichen Wahrheit. Wozu solcher Wahn führt, mussten die jüdischen Mitbürger im Kreis ab Anfang der 1930-er Jahre erleben, als der aufkommende Nationalsozialismus Antisemitismus legitimierte und mehrheitsfähig machte. Bereits Anfang des Jahrzehnts kam es zu Hetze und ersten Vertreibungen, wobei es Unterschiede unter den verschiedenen Gemeinden gab, denn die Menschen waren und sind verschieden – und natürlich auch unterschiedlich empfänglich für Hass und Hetze.

Das hat Walter Ullrich (Foto), seit 2012 Pfarrer im Ruhestand und seit Gründung Vorsitzender des Fördervereins Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau, der für Restaurierung und Unterhaltung der ehemaligen Synagoge in Erfelden verantwortlich zeichnet, in der eigenen Familie erlebt. Großeltern und Eltern sind überzeugte Nationalsozialisten gewesen, weshalb das Thema für ihn eine Art Lebensthema ist, dem er sich auch heute mit Ende 70 noch widmet. Denn der in den 1980-er Jahren gegründete Verein, dem heute der Kreis, die Städte und Gemeinden, evangelische und katholische Kirchengemeinden, Parteiorganisationen, Heimat- und Geschichtsvereine und viele andere Institutionen des Kreises angehören, hatte das heruntergekommene Gebäude im Sommer 1989 gekauft und es bis Mitte der 1990-er Jahre restauriert und zu einer Gedenkstätte umgebaut, die gleichermaßen Dokumentations- und Lernstätte ist und Raum für kulturelle Veranstaltungen bietet. Bis heute gab es dort zahlreiche Führungen, es wurden Vorträge gehalten und Konzerte gespielt. Darüber hinaus werden auch immer wieder Rundgänge über den jüdischen Friedhof in der Kreisstadt angeboten.
Bislang war stets Walter Ullrich federführend engagiert, ist nun allerdings darum bemüht, das Heft des Handelns an Jüngere weiterzugeben. Potenzielle Nachfolger gibt es schon, aber natürlich freut man sich im Verein über jeden und jede, der oder die sich für die Spuren der jüdischen Geschichte in der Region sowie deren Erhalt und Weitergabe interessiert und im Verein mitarbeiten möchte.
Im Gespräch mit Walter Ullrich erinnert sich dieser, wie man die ehemalige Synagoge, die nur überlebt hatte, weil die jüdische Gemeinde Erfelden sie bereits 1937 an den damaligen Nachbarn Philipp Glock hatte verkaufen müssen, ab Mitte der 1990-er Jahre wieder mit Leben füllte. Ein berührendes Highlight sei für ihn Ende des Jahrzehnts der Vortrag eines weißrussischen Überlebenden des Ghetto Grodno (heute weißrussisch: Hrodna) gewesen, wo die SS Juden in arbeitsfähige und arbeitsunfähige Personen unterteilte, um letztere im Anschluss zu deportieren und zu ermorden.
Doch der wachsende Antisemitismus heutzutage macht Walter Ullrich Sorgen, auch wenn es in Bezug auf die Synagoge noch nie zu rechtspopulistischen Übergriffen gekommen sei. „Wir haben früh die Entscheidung getroffen, im Vorstand das ganze demokratische Spektrum abzudecken“, sagt Ullrich, was sicher geholfen hat, die Akzeptanz für das Projekt zu fördern. Allerdings werde er durchaus auf den kleinen Davidstern angesprochen, den er an derselben Kette wie das große Kreuz um den Hals trägt, und er überlege sich genau, wann er eine Kippa trage. So weit ist es also schon wieder gekommen.

„Es fehlt das interkulturelle Gespräch, man hört sich nicht mehr richtig zu, das ist das Problem. Die Vertreter der Religionen müssen sich wieder zuhören, mit Empathie, und sie müssen ihre Ideen in Relation zur Lebenswelt der Menschen setzen. Religionen neigen nämlich dazu, ausgedachte Regeln zu dogmatisieren.“ So funktionieren alle Ideologien: Es gibt Heilsbotschaften, die geglaubt, und Regeln, die befolgt werden müssen, um das Heilsversprechen erfüllt zu bekommen. Doch all das haben sich Menschen ausgedacht.
So auch Nationalsozialismus, Rassismus, Antisemitismus – alles menschliche Erfindungen. Deshalb sind das Dokumentieren, das Bewahren und Gedenken auch unsere Aufgabe, denn es waren unsere Vorfahren, die diese Verbrechen begangen oder dabei zugesehen haben. Die Gräueltatengegen an amerikanischen Ureinwohnern oder aus den Zeiten der Sklaverei beschäftigen die U.S.-amerikanische Gesellschaft bis heute, und das, was im Gaza-Krieg geschieht, wird die israelische Gesellschaft noch lange beschäftigen. Wir sollten anfangen, dieselben Fehler nicht immer wieder zu machen. Und das geht nur mit Mitgefühl, mit Empathie, da ist sich Walter Ullrich sicher. Das wusste nämlich bereits Jesus Christus.





