50 Jahre Psychiatrie-Enquête

Von Ulf Krone.
Vor 50 Jahren veröffentlichte der Deutsche Bundestag den Bericht der Psychiatrie-Enquête und stieß damit Reformen an, die die deutsche Psychiatrie und den Umgang mit den Patienten grundlegend und dauerhaft verändern sollten. Es sollte das Ende großer „Verwahranstalten“ sein, in denen Betroffene dauerhaft weggesperrt wurden, und der Beginn einer seriösen medizinischen wie gesellschaftlichen Beschäftigung mit psychischen Erkrankungen. Eine Erfolgsgeschichte, die eng mit dem Kreis Groß-Gerau verwoben ist.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten kam es in der Bundesrepublik zu einem umfassenden Um- und Ausbau der Einrichtungen für Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Ein neues Verständnis dafür hielt Einzug, und diese Entwicklung geht auch heute noch weiter. Aktuell beschäftigt etwa der Umgang mit dem Thema Depression die Gesellschaft, denn Vorurteile und Unwissenheit gibt es nach wie vor. Und auch das Problem psychisch kranker Straftäter erlangt immer wieder traurige Aktualität. 50 Jahre nach Vorstellung der Ergebnisse der Kommission wird nun der Ruf nach einer Neu-Auflage laut, nach einer Modernisierung und Aktualisierung des Systems.
Doch zurück zum Anfang – weit zurück. 1535 war das Philippshospital in Riedstadt als Pflegeanstalt für mittellose Kranke von Landgraf Philipp von Hessen gegründet worden. Die Spezialisierung auf die Pflege psychisch kranker Menschen kam im 19. Jahrhundert, Anfang des 20 Jahrhunderts erhielt die Einrichtung den Namen Philippshospital. Und bis weit in dieses Jahrhundert hinein war die Einrichtung weitgehend selbstversorgend mit Landwirtschaft und handwerklichen Betrieben.

Letzte Spuren dieser Zeit bemerkte auch die Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. Maria Rave-Schwank noch, als sie Ende der 1970-er Jahre an das Philippshospital kam, etwa eine Nahrungsmittelhalle, den eigenen Bäcker und einen Elektriker. Doch leider auch der Umgang mit den Patienten, die in Schlafsälen mit teilweise 30 anderen und permanent beobachtet keinerlei Privatsphäre besaßen.
„Alles war öffentlich, die Unterbringung war menschenunwürdig“, erinnerte sich Dr. Maria Rave-Schwank bei der Veranstaltung des Kreises aus Anlass von 50 Jahre Psychiatrie-Enquête Ende September in der Kreisverwaltung. „Die Patienten hatten keine Zeit für sich oder Angehörige. Wenn sie Besuch bekamen, dann nur Verwandte, keine Freunde.“ Und ein Pfleger stand stets daneben. „International war Deutschland da im Hintertreffen im Vergleich mit unseren Nachbarn, die schon gemeindenahe Psychiatrie aufbauten.“
Zwar seien einige Veränderungen bereits angestoßen gewesen, als sie ans Philippshospital kam, doch es lag noch viel Arbeit vor allen Beteiligten – überall im Land. Denn vor der Psychiatrie-Enquête waren psychiatrische Einrichtungen geprägt von Verwahrung, Stigmatisierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer etwa im Philippshospital habe damals bei sechs Jahren gelegen, berichtete Dr. Maria Rave-Schwank. Im Vergleich dazu liegt sie heute bei sieben Tagen. Deshalb hatte der damalige Bundestagsausschuss für Gesundheitswesen eine Sachverständigenkommission eingesetzt, die eine umfassende Analyse und Reformempfehlungen erarbeiten sollte, die schließlich 1975 veröffentlicht wurde. Dr. Maria Rave-Schwank war seit 1970 als zunächst einzige Vertreterin der Pflegegruppe in der Arbeitsgruppe Ausbildung und Personal Mitglied dieser Kommission und hat die Ergebnisse seinerzeit miterarbeitet. Ihr erstes Ziel im Philippshospital, in dem sie von 1979 bis 1990 ärztliche Direktorin war, sei die Herstellung der normalen Menschenrechte gewesen, durch eigene Kleidung und Privatsphäre, durch kleine Patientenzimmer statt riesiger Schlafsäle. Außerdem wurden die Angehörigen mit eingebunden, was für die Patienten natürlich eine umgehende Steigerung der Lebensqualität bedeutete.
Das zweite große Problem war das Personal, beziehungsweise dass es kaum welches gab. So kam anfangs auf 780 Patienten ein Psychologe, und auch im Pflegebereich sah es verheerend aus. „Doch Veränderungen dauern Zeit“, mahnte Dr. Maria Rave-Schwank im Gespräch mit Moderator Axel Schiel nach einer Einleitung durch den Ersten Kreisbeigeordneten Adil Oyan zur Geduld – damals wie heute.
Damals sei die Erlaubnis zur ambulanten Weiterbehandlung nach der Entlassung ein großer Schritt gewesen, da dadurch natürlich die Aufenthaltsdauer reduziert wurde, so dass die Patienten schneller in ihr gewohntes Umfeld zurück und dennoch weiterhin betreut werden konnten. Die Bedeutung von Arbeit könne gar nicht überschätzt werden, so die Psychiaterin, die berichtet, dass die Patienten früher in Goddelau gebettelt hätten, weil sie für ihre Arbeit im Hospital nicht entlohnt wurden und über keinerlei Geldmittel verfügten.
Was ebenfalls nicht unerwähnt blieb, war die Entwicklung der Bedeutung der Angehörigen, die mehr und mehr in die Therapie eingebunden wurden und werden. „Angehörige sind zu Partnern und Mitarbeitern geworden, die mitmachen und bei der Behandlung helfen“, brachte es Dr. Maria Rave-Schwank auf den Punkt. Doch durch die kürzeren Aufenthaltsdauern sei deren Aufgabe natürlich größer und schwieriger geworden. Der Patient setzt die Behandlung von zuhause aus fort, und daran müssen alle Beteiligten gemeinsam arbeiten, weshalb den Angeboten durch die SPV Gemeindepsychiatrische Angebote gGmbH eine so große Bedeutung zukomme. Die war 1979 als direkte Folge der Psychiatrie-Enquête von Dr. Maria Rave-Schwank und weiteren Mitarbeiterinnen des Philippshospital gemeinsam mit Bürgerinnen gegründet worden und finanziert sich aus Mittel des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, des Kreises, des Landes, aus Eigenmitteln und aus Spenden. Ihren Angeboten ist gemein, dass sie für die Patienten wohnortnah und niedrigschwellig direkt in den Gemeinden zu finden sind.
Zur Entwicklung einer humanen Psychiatrie gehörte für Dr. Maria Rave-Schwank selbstverständlich auch die Aufarbeitung der Ereignisse während der NS-Zeit, als etwa 596 Patienten von den Nazis ermordet worden waren. Mithilfe von Benefiz-Aktionen wie einem Stein-Verkauf sowie durch Spenden der umliegenden Gemeinden konnte ein Gedenkstein finanziert werden, der am 1. September 1989 eingeweiht wurde.
Zieht man eine Linie von der Ermordung psychisch Kranker durch die Nationalsozialisten über die Verwahranstalten der Nachkriegszeit und die Psychiatrie-Enquête in den 1970-ern bis zu heutigen psychiatrischen Einrichtungen und etwa den Angeboten der SPV, so ist schon viel geschafft worden. „Doch das reicht noch nicht“, beharrt Dr. Maria Rave-Schwank im Gespräch mit Axel Schiel. „Es muss mehr getan werden.“ Der Weg ist nie zu Ende, Stillstand darf es nicht geben, denn es geht um das Wohl der Patienten, um ihr Leben.

Alltagshelden gestern (30) von Walter Keber
Golle den Schrecken genommen

Von Walter Keber.
Mit Unterstützung der Kreissparkasse Groß-Gerau ist 2007 das Buch „Gesichter & Geschichten aus dem Kreis Groß-Gerau“ im Welzenbach Verlag erschienen (263 Seiten, 19,80 Euro). Es enthält 123 Porträts, verfasst von dem Journalisten Walter Keber (wkeber@t-online.de). Mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor lesen Sie diesmal einen Beitrag, der über Dr. Maria Rave-Schwank verfasst wurde.
Tiefe Spuren hat Dr. Maria Rave-Schwank, die frühere ärztliche Direktorin des Psychiatrischen Krankenhauses Philippshospital in Riedstadt-Goddelau, hinterlassen. In ihrer Amtszeit von 1979 bis 1990 hat sie maßgeblich die Weichen gestellt zu einer modernen, therapeutisch orientierten Psychiatrie. Hinzu kamen eine bewusste Öffnung der Einrichtung und die Abkehr von der althergebrachten Anstalt, aber auch Neuerungen wie in der Angehörigenarbeit gestellt. So gelang es der 1935 in Karlsruhe Geborenen – liebenswürdig, aber sehr beharrlich – umzusteuern, und „Golle“ – so Goddelau im Volksmund als Synonym für die Psychiatrie – viel von seinem Schrecken zu nehmen. In jener Zeit wandelte sich im auf eine Schenkung des Landgrafen Philipp des Großmütigen zurückgehenden Hospital sehr vieles: Goddelau war plötzlich nicht mehr nur Endstation für Kranke, sondern ermöglichte stärker als bisher durch moderne Hilfsangebote und Betreuung eine Rückkehr in die reguläre Gesellschaft. Dazu wurden im internen Ablauf neue Methoden praktiziert und viele strukturelle Veränderung umgesetzt. Vor allem aber zog ein neuer Geist im alten Haus ein: Ein neues Team mit neuem Bewusstsein wuchs heran. Bequem war das alles nicht, auch für die ärztliche Direktorin selbst.
Noch in den Sechzigerjahren kritisierte in seinem Buch „13 unerwünschte Reportagen“ Enthüllungsjournalist Günther Wallraff die Zustände im Philippshospital, wo er sich als Patient eingeschmuggelt hatte. Nicht viel anders freilich waren seinerzeit die Zustände in vielen Psychiatrien. Den Status Quo nannte die 1970 vom Bundestag in Auftrag gegebene und 1975 der Bundesgesundheitsministerin überreichte Psychiatrie-Enquete „menschenunwürdig.“ Außerdem waren beispielsweise im Philippshospital nach einer Untersuchung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde 1976 „die meisten Pflegestellen“ unbesetzt. Und in der dortigen Geriatrie gab es nur eine Toilette für 23 Patienten!
Dennoch ließ sich die in München promovierte Fachärztin für Neurologie und Psychotherapie nicht abschrecken, 1979 die Aufgaben der ärztlichen Direktorin des vom Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen getragenen Philippshospitals zu übernehmen. Es war vielmehr eine bewusste Entscheidung. Schon zuvor hatte sich die Ärztin für neue Wege in der Psychiatrie engagiert. Tatkräftig arbeitete sie vom ersten Tag an einer Veränderung und Verbesserung der Verhältnisse. Schon 1979 wirkte sie maßgeblich bei der Gründung des Sozialpsychiatrischen Vereins mit, der heute kreisweit Träger vieler Betreuungsangebote für seelisch Kranke ist.
Sowohl im internen Klinikbetrieb als auch in der Beziehung nach draußen änderte sich unter Leitung von Dr. Rave-Schwank, unterstützt von vielen engagierten Ärzten und anderen Mitarbeitern, vieles nahezu revolutionär, etwa die Beziehungen zwischen Personal und Patienten. „Es war eine große Trennung“, erinnert sich Rave-Schwank an den Status quo bis dahin, und: „Es galt, einen neuen Weg zu finden, um diese Kluft zu überwinden.“ Dazu trug unter anderem Weiterbildung der Mitarbeiter bei. Auch Räumlichkeiten im Philippshospital veränderten sich, große Schlafsäle wurden in überschaubare Stationen umgewandelt. 1983 verschwand der letzte 23-Betten-Saal in dieser Klinik. Patienten erhielten außerdem größerer Freiräume. Eine wichtige Errungenschaft war die Eröffnung der Institutsambulanz im Jahr 1981 sowie von 1983 an die Einrichtung von Tageskliniken zur ambulanten Betreuung. Hinzu kamen externe Wohngemeinschaften für Patienten.
Mit tief greifenden Veränderungen im Inneren lief zeitlich parallel die schrittweise Öffnung nach außen. So wurden die Beziehungen zwischen Klinik und Außenwelt auf neue Füße gestellt. Spektakulär waren die von 1984 an durchgeführten „Tage der offenen Tür“, wozu Besucher auf dem Klinikgelände willkommen waren. Außerdem spielten an Sonntagvormittagen Musikvereine bei Platzkonzerten auf. Mit dem durch Spenden angeschafften „Sperling“-Kleinbus wurden Touren unternommen.
Hinzu kam der Ausbau des Laienhelfer-Systems, womit Menschen von außen Patenschaften für Patienten übernehmen konnten – sei es zu gemeinsamem Kaffeetrinken, Ausflügen oder beispielsweise Schachspiel. Eine der vielleicht einschneidensten Neuerungen war von 1981 an der Aufbau von Angehörigen-Gruppen. Das war neu, macht Rave-Schwank so klar: „Wir haben die Angehörigen als Partner angesehen.“ Mitarbeit, aber auch Wünsche und Kritik waren erwünscht. Solches Neuland wurde wissenschaftlich begleitet betreten, unter anderem durch fünf Symposien zur Angehörigenarbeit.
Ein wichtiges Ziel war auch, das Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein der Patienten zu stärken, in vielen Fällen sogar erst regelrecht wieder aufzubauen. Dem diente unter anderem der Ausbau einer bezahlten Arbeitstherapie. Mit alledem wurden im Philippshospital positive Elemente des sogenannten Toskana-Modells, der modellhaft offenen Arbeit in der italienischen Psychiatrie, übernommen und auf die Verhältnisse im Ried angepasst.
Aber auch die unheilvolle Vergangenheit wurde unter Leitung von Dr. Rave-Schwank aufgearbeitet: Am 1. September 1989 weihte sie unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit im Eingangsbereich des Philippshospitals einen Gedenkstein zum 50. Jahrestag des berüchtigten Psychiatrieerlasses von 1939 ein, der zur Ermordung tausender seelisch und geistig behinderter Menschen geführt hat. Allein aus dem Philippshospital wurden 596 Patienten Opfer des braunen Rassenwahns. Die meisten starben 1941 in Hadamar. Der Gedenkstein sollte zudem über den Tag hinaus zu menschenwürdigem Umgang mit Behinderten, aber auch Problem-und Randgruppen mahnen.
Für all diese Neuerungen hat Dr. Maria Rave-Schwank, die anschließend Chefärztin der Städtischen Psychiatrieklinik in ihrem Geburtsort Karlsruhe wurde, sehr engagiert in Goddelau bis 1990 gearbeitet, hat tiefe positive Spuren hinterlassen. Im Rückblick sagt sie: „Ich habe das gerne gemacht.“ Noch heute ist es für sie selbstverständlich, alljährlich zur Gedenkstunde an die NS-Opfer am 1. September ins Philippshospital zu kommen. Darüber hinaus veröffentlicht sie auch im Ruhestand weiter Beiträge in Büchern und Zeitschriften.
Zur Person Dr. Maria Rave-Schwank: 1935 geboren in Karlsruhe, Schule, Universität, Examen und Promotion an der Universität München, Arbeit in Heidelberg. 1979 ärztliche Direktorin des Philippshospitals. – Gründung des Sozialpsychiatrischen Vereins 1981 Neugründung der Institutsambulanz im Philippshospital. – Beginn der Arbeit mit Angehörigengruppen 1982 Schließung des letzten 23-Betten-Saals, keine Station hat mehr über 40 Betten 1983. Tageskliniken in Groß-Gerau und Raunheim – 450-Jahr-Feier des Philippshospitals. 1984 Tag der offenen Tür. 1985 in Stockstadt Eröffnung der ersten Wohngemeinschaft. 1988 Bundesverdienstkreuz. 1989 Errichtung des Psychiatrie-Gedenksteins für die Opfer des NS-Systems. 1990 Wechsel als Chefärztin der Städtischen Psychiatrischen Kliniken in Karlsruhe. Zahlreiche Veröffentlichungen.





