Der unbestechliche Blick

Von Ulf Krone.

Am 23. Mai ist mit Sebastião Ribeiro Salgado Júnior in Paris der vermutlich bedeutendste Fotograf des 20., aber ebenso wahrscheinlich einer der bedeutendsten Fotografen des 21. Jahrhunderts im Alter von 81 Jahren gestorben. Neben seiner Frau und künstlerischen Partnerin Lélia Wanick Salgado sowie den gemeinsamen Söhnen Juliano und Rodrigo hinterlässt Sebastião Salgado ein fotografisches Werk, das ohne jede Übertreibung als umfassende Dokumentation unserer Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts betrachtet werden kann – und sollte.

„Niemand hat das Recht, sich vor dem Unglück seiner Zeit zu schützen, denn wir tragen auf gewisse Weise alle die Verantwortung dafür, was in der Gesellschaft geschieht, in der wir uns entschieden haben zu leben. Wir alle müssen uns eingestehen, dass die Konsumgesellschaft, deren Teil wir sind, zahllose Bewohner dieser Erde ausbeutet und verarmen lässt. Wir alle müssen uns über das Unglück, das etwa durch die Ungleichheit zwischen Norden und Süden entsteht, und die Katastrophen, die sie reihenweise verursacht, informieren, indem wir Radio hören, Fernsehen schauen, Zeitungen lesen, Fotos betrachten. Es ist unsere Welt, wir müssen mit ihr fertigwerden.“

Sebastião Salgado

Die Brasilianer Salgado und Wanick waren 1969 aufgrund der Militärdiktatur in ihrer Heimat nach Frankreich emigriert, wo Sebastião Jahre später zum Fotografen wurde und seine ersten journalistischen Schritte machte. Sein soziales Gewissen und sein strenger moralischer Kompass blieben zeitlebens Wegweiser seiner Arbeit als Fotograf. Er fotografierte in den 1980-er Jahren die Hungerkatastrophe in der Sahel-Zone, den Völkermord in Ruanda und die Flüchtlingsströme überall auf der Welt, auch mitten in Europa während des Balkan-Kriegs. Er dokumentierte die Bedingungen, unter denen Arbeiter überall auf der Welt schwere körperliche Arbeit verrichteten, von den Arbeiten am Euro-Tunnel über Goldsucher in Brasilien, Schiffs-Abwracker in Bangladesch und die Feuerwehrleute, die die brennenden Ölquellen in Kuwait Anfang der 1990-er Jahre löschten, bis hin zum traditionellen Thunfisch-Fang auf Sizilien oder der Arbeit in der Automobilindustrie Indiens. Und nachdem er vom Grauen, dass er bei der Arbeit an seiner Dokumentation der großen Flüchtlingsströme am Ende des 20. Jahrhunderts („Exodus“) hatte miterleben müssen, krank geworden war, pflanzte er mit seiner Frau Millionen Bäume auf der Farm seiner Familie und begann, die letzten vom Menschen unberührten Orte des Planeten, also Landschaften, Flora und Fauna, aber auch indigene Völker, die noch so lebten wie seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden, zu fotografieren. Am Ende stand „Genesis“, ein gewaltiges Projekt und eine einzigartige Liebeserklärung an unseren Planeten.

Salgado fotografierte in Schwarz-Weiß, und wie seine Bilder haben auch seine oftmals mehrere Jahre in Anspruch nehmenden Reportagen nicht bloß Schwarz und Weiß zu bieten, sondern darüber hinaus unzählige Grau-Schattierungen. Er verstand es, in seinen fotografischen Serien größere Zusammenhänge hervorscheinen zu lassen, die über das aktuelle Thema hinausgingen und auf eine oder mehrere andere Arbeiten verwiesen. So fotografierte er 1991 für sein Projekt „Arbeiter. Zur Archäologie des Industriezeitalters.“ die Arbeiter auf den Tee-Plantagen in Ruanda. Den Beginn des Tee-Anbaus in dem kleinen ostafrikanischen Land hatte er noch während seiner kurzen Zeit als Ökonom für die Internationale Kaffee-Organisation Anfang der 1970-er Jahre auf Dienstreisen beobachten können, und 1994 dokumentierte er als einer der ersten das Grauen des Genozids der Hutu an den Tutsi und die Folgen, eine beispiellose Flüchtlingsbewegung in die Nachbarländer, wo das im Falle der Demokratischen Republik Kongo bis heute zu einem massiven Einfluss Ruandas und dem anhaltenden katastrophalen Krieg der kongolesischen Armee gegen die vom Nachbarn unterstützte Miliz M23 führte. Damals wie heute bleibt die Weltgemeinschaft untätig, obwohl sich viele der Probleme bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen lassen.

Salgados Kunst prangert all das an, die Ausbeutung und die Manipulation, die Korruption und die Gewalt, den Rassismus der einen und die Ignoranz der anderen. Sein Mittel der Wahl beim Kampf gegen das Unrecht waren die Bilder, die die Welt über die Zustände informieren, jedoch nicht mit der Brutalität der hyper-realistischen Farbfotografie, sondern im stilisierten Schwarz-Weiß, das den Menschen ihre Würde lässt. Das hatte und hat nichts mit Voyeurismus zu tun, der liegt bei den Politikern, die all das zulassen, ohne zu handeln. Salgado hat gehandelt, empathisch, künstlerisch, humanistisch. Seine Stimme und seine Bilder werden fehlen.

Ulf Krone
ist Redakteur beim WIR-Magazin
und studierter Philosoph;
ulf.krone@wir-in-gg.de

2014 setzte Regisseur Wim Wenders dem Leben und Schaffen des Fotografen mit dem Dokumentarfilm „Das Salz der Erde“ ein Oscar-nominiertes und bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes prämiertes Denkmal. Sowohl in Sachen Ästhetik als auch hinsichtlich des streng humanistischen Ansatzes können der brasilianische Fotograf und der deutsche Regisseur als Brüder im Geiste bezeichnet werden, wovon sich Interessierte aktuell in der Wenders-Ausstellung „W.I.M. Die Kunst des Sehens“ in der Bundeskunsthalle in Bonn überzeugen können.

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