In Mikroromanen um die Welt

Von Siggi Liersch.
Vielfältig und höchst unterschiedlich sind die von Christoph Ransmayr aufgesuchten und verwörterten Orte dieser Welt. Sie reichen von Japans vermeintlich bebender Erde bis zu den Felsentürmen des Toten Gebirges in Österreich. Dieser sprachmächtige österreichische Erzähler hat mit „Egal wohin, Baby“ siebzig komprimierte Geschichten zu siebzig Schwarz-Weiß-Fotografien aufgezeichnet.
Dabei hat er das keinesfalls im Vorübergehen getan und mit Lorcan sogar ein erzählendes alter Ego präsentiert. Er ist sehr konzentriert an die Formulierung seiner kleinen Geschichten, die wie poetische Reiseberichte wirken, herangegangen. Ob man allerdings jeden Text gleich als Mikroroman bezeichnen muss, ist zweitrangig, da jede eingedampfte Geschichte zu diesen Bildern in sich geschlossen ist und ein ausgefeiltes Stück Literatur darstellt. Das macht auch den Genuss beim Lesen aus. Man bekommt eine Ahnung von der breit gefächerten Ransmayrischen Phantasie, von seiner Welterfahrenheit, die selbst in kurzen Prosastücken sichtbar wird.
Es sind eben echte Reisen, die Ransmayr unternommen hat, und keine Kopferlebnisse mit hohler Digitalunterstützung. Alles echt und kein Fake. Er befand sich wirklich in einem Garten der irischen Grafschaft Cork, hat im Südpazifik verlorene Inseln besucht, das unter Gletschern begrabene Franz-Josef-Land an der Route zum Nordpol betreten, die brasilianische Regenwaldküste erlebt oder die umkämpfte Wildnis zwischen Uganda und dem Kongo erlitten wie auch etwas so Unscheinbares wie eine von Pflanzen überwucherte Rolltreppe hinab zur U-Bahn gewürdigt. Kein Bild, keine optische Notiz ist so unbedeutend, dass er ihm nicht seine volle Aufmerksamkeit mitsamt seiner außergewöhnlichen Formulierungskraft zuwenden würde. Dabei richtet sich Ransmayrs Blick auf Details und erfasst auch das große Ganze im Historischen wie im Geographischen. Dass der Augenblick flüchtig ist, zeigt er dem Lesepublikum in beeindruckenden virtuosen Sätzen.
Erfahrungen seines Reiselebens verwandelt er in Sprache: „Lorcan hatte in Kapstadt nach den verwischten Spuren der von niederländischen Eroberern versklavten oder erschlagenen Ureinwohner aus den Völkern der Khoikhoi gesucht, in den Tagen seiner Ankunft aber nur den Rat für Touristen befolgt, die große Kolonie der Brillenpinguine an der Straße zum Kap der Guten Hoffnung zu besuchen. In der Vielsprachigkeit der Khoikhoi hatte ihr Stammesname Wahre Menschen bedeutet, geblieben waren am Ort ihrer bis in die Steinzeit hinabreichenden Geschichte nur die Spuren europäischer Grausamkeit, die nach den niederländischen auch die koloniale britische Gier bediente und allen Reichtum des von wahren Menschen besiedelten Landes – Gold, Platin, Diamanten, Uran, Eisen und vor allem die Arbeitskraft der Ureinwohner – ausbeutete und zur Erinnerung Massengräber hinterließ.“ Mit Sätzen wie diesen gelingt ihm ein buntes Leseabenteuer, das die gesamte Welt umspannt und zum Flanieren einlädt. Vielleicht kommt auch daher der Titel dieses Buches: „Egal wohin, Baby“. Zu guter Letzt ist es unerheblich, welchen Ort wir gemeinsam mit ihm auf dieser Welt aufsuchen. Wenn wir ihm gerecht werden wollen, müssen wir aufmerksam sein und jedes noch so kleine Detail wahrnehmen und für uns auswerten.
Christoph Ransmayr: Egal wohin, Baby, Mikroromane, S. Fischer, 2024, 256 Seiten, 28,00 Euro

arbeitet als Schriftsteller, Liedermacher und Kritiker in Mörfelden-Walldorf;
siegfried.liersch@gmx.de