Die Schrecken des Krieges

Von Siggi Liersch.

Nein, hier ist nicht die Rede von dem brutalen Angriffskrieg der Putin-Truppen auf die Ukraine, hier ist die Rede vom Ersten Weltkrieg aus der Sicht eines französischen Landsers, aus der Sicht des Louis-Ferdinand Céline.

Am 6. August 2021 berichtete Le Monde von einer unglaublichen Entdeckung. Der ehemalige Theaterkritiker Jean-Pierre Thibaudat war seit etwa fünfzehn Jahren im Besitz einer Kiste voll Céline-Handschriften, die er geordnet und transkribiert hatte. Darunter befand sich auch der Text von „Krieg“, dem ersten Buch aus diesem Konvolut. Geschrieben etwa 1934 könnte dies auch eine inhaltliche Weiterführung von Célines bahnbrechendem Roman „Reise ans Ende der Nacht“ sein, einem der umstrittensten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts. Verfasst unter dem schockierenden Eindruck des großen Abschlachtens im ersten Weltkrieg, ist es ein Aufschrei gegen die Brutalität und Verkommenheit einer vergangenen Welt, die leider auch hundert Jahre später immer noch aktuell sind, weil Hass und Niedertracht das Leben bestimmen. Beide Bücher sind wüst und anarchisch und die Aktualität ihrer radikalen Zivilisationskritik gilt bis heute unverändert. 

Die Geschichte beginnt in Flandern im Herbst 1914. Bereits zu Beginn des Kriegs wird der junge Soldat Ferdinand schwer verwundet. Nach seiner Operation kommt er ins Militärkrankenhaus, wo ihn eine Krankenschwester pflegt, die ihn sexuell so anzieht wie er umgekehrt sie. Von den brutalen Kriegsbildern im Kopf kann sich Ferdinand allerdings nicht wirklich befreien. Seine Freundschaft mit dem Zuhälter Bébert treibt ihn auch im Zivilleben in diverse Ausnahmesituationen. Zügellose Vergnügungen überdecken nie die erlebten und erlittenen Kriegsgräuel. Ferdinand beobachtet sehr genau, aber er verroht. Zynismus und Liebessehnsucht sind die beiden Seiten seiner Verhaltensmedaille. Schmidt-Henkels Übersetzung bringt Célines Argot-Sprache und seine brutal anmutenden Obszönitäten auf einen realistischen Nenner, dem jegliches romantische Gesäusel fehlt. Auch wenn gerade keine Bomben fallen, bereiten sich die Menschen untereinander eine Hölle des Umgangs miteinander. 

Es darf nicht verschwiegen werden, dass Céline ein Antisemit übelster Sorte war. Davon zeugen seine Hetzschriften gegen die Juden sowie seine spätere Nähe zu den Nazis, aber weder in „Krieg“ noch in „Reise ans Ende der Nacht“ kommt auch nur ein einziger antisemitischer Satz vor. In diesem Zusammenhang sei der jüdische Schriftsteller Philip Roth zitiert, der diesen Zwiespalt auch nicht auflöst, ihn aber erträgt: „Um die Wahrheit zu sagen: Mein „Proust“ in Frankreich, das ist Céline! Er ist wirklich ein sehr großer Schriftsteller. Auch wenn sein Antisemitismus ihn zu einer widerwärtigen, unerträglichen Gestalt macht. Um ihn zu lesen, muss ich mein jüdisches Bewusstsein abschalten, aber das tue ich, denn der Antisemitismus ist nicht der Kern seiner Romane (…) Céline ist ein großer Befreier,“

Céline schrieb keine Bücher für schöngeistige Gemüter, aber die aktuellen Kriege und Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina oder Russland und der Ukraine lassen ja auch keine romantische Grundstimmung aufkommen.

Siggi Liersch
arbeitet als Schriftsteller, Liedermacher und Kritiker;
siegfried.liersch@gmx.de

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