Titelgläubigkeit

Von Edelgard Rietz.

Wir Deutschen haben im Allgemeinen zu viel Respekt vor einem Titel. Wieviel davon zu halten ist, haben wir ja in den letzten Jahren deutlich gesagt bekommen. Da will ich keinesfalls die wirklich verdienten diskreditieren, steht mir auch nicht zu. 

Ein klassisches Beispiel ist die frühere Jahrhundertwende. Wurde man in eine gut situierte Familie hineingeboren, haben die Söhne studiert, die Töchter wurden verheiratet. Die Reihenfolge nach Alter musste da eingehalten werden. Bei meinem Schwiegervater war das so. Drei Töchter haben geheiratet, zwei hatten zusammen eine Poststelle – ungewöhnlich für die Zeit – und eine ging ins Kloster.

Mein Schwiegervater war Lehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch. Er hatte zwei Titel. Einer davon war auf Hebräisch, das kam in der Nazizeit nicht gut an. In die Promotions-Arbeit für den anderen Titel konnte mein Sohn reinschauen, und auf meine Frage „Na und?“, kam nur ein schwaches „Na ja“. Auch von einem hohen Regierungsbeamten, Friede seiner Asche, weiß ich von meinem Professor in Darmstadt, der neugierig war und in der damaligen DDR die Promotions-Arbeit lesen konnte, weil das in der BRD nicht möglich war. Sein Kommentar: „Das ginge heute nicht mal mehr als Hausarbeit durch.“

Es gibt aber auch positive Beispiele, wo kein Abschluss einer Uni hinderlich war für eine Superkarriere. Unser ehemaliger Außenminister Joschka Fischer ist da ein Beispiel. Übrigens ist ein akademischer Titel nicht Teil des Namens. Das hat sich nur so eingeschlichen, weil wir Titel mit Klugheit verbinden, und wer möchte nicht als klug gelten? 

Doch Klugheit zeigt sich im täglichen Leben. Manchmal auch in ganz einfachen Begebenheiten. Es ist egal, auf welchem Fachgebiet oder in welcher Lebenssituation. Ich liebe es, wenn Klugheit auch mit Menschlichkeit einhergeht. Diese bewundernswerten Klugen können für alle auch schwierige Zusammenhänge gut erklären. Sie befürchten auch nicht, verkannt zu werden. Es ist ein Glück, ihnen zuzuhören. 

Davon profitieren alle und alle können nachfragen, ohne als doof zu gelten. Manchmal geht es auch schief. Als ich mich mal über einen gewissen Herrn Melnyk ausgelassen habe, bekam ich einen bitterbösen Brief wegen meiner Respektlosigkeit. Nur mit Mühe ist es mir gelungen, nicht zurückzufeuern. Mir hat mal einer gesagt, das sei typisch für meine norddeutsche Kaltschnäuzigkeit. In diesem Sinne!

Edelgard Rietz
ist Malerin mit Wohnsitz in Groß-Gerau;
edelgard.rietz@gmx.de

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