Ein Monument der Literatur

Von Siggi Liersch.

Wenn von Martin Walser die Rede ist, spricht man von einem Schriftsteller, der über Franz Kafka promoviert hat und der kontinuierlich seit 1955 Veröffentlichungen vorlegt. Lange Jahrzehnte tat er dies im renommierten Suhrkamp Verlag und nun, ebenfalls schon wieder seit vielen Jahren im kaum minder beachteten Rowohlt Verlag.

Allein seine Lebens- und Schaffensspanne nötigen den allergrößten Respekt ab. Er wurde 1927 geboren, ist ein Zeitzeuge ersten Ranges und gehört sicherlich zu jenen Schriftstellern, die nach dem zweiten Weltkrieg der bundesdeutschen Literatur im In- und Ausland wieder zur Anerkennung verhalfen. Mit seinen Romanen und Erzählungen, aber auch mit seinen Essays und politischen Aufrufen hat er das intellektuelle und literarische Bewusstsein mehrerer Generationen geprägt. Man kann sich durchaus auch im Widerspruch zu Walsers An- und Einsichten befinden, kalt wird er einen nie lassen. Diese längere Einführung sei erlaubt, denn Martin Walser hat uns auch heute noch viel zu sagen und es lohnt sich, seine Texte zu lesen, in denen er nicht Zeitloses, sondern auf die jeweilige Gegenwart Bezogenes mitteilt. Und das macht sie in gewisser Weise zeitlos. Nun hat er ein Buch vorgelegt, das seine Träume aus fünfundzwanzig Jahren festhält. Es sind keine auserzählten Texte, mehr Angedeutetes, Szenenhaftes und so lassen sie dem Leser Platz für eigene Gedanken, auch für Erinnerungen an selbst durcherlebte Träume. Hier ein Traumbeispiel: „Im Kulturbetrieb wird von einem neuen Buch von Günter Grass gesprochen. Es ist noch nicht da. Noch nicht fertig, aber er hat schon ein oder zwei Kapitel davon geschrieben. Es ist ein ganz großartiges Buch. Titel: ‚Tod im Odenwald‘.“

Knapper kann man einen Traum wohl kaum fassen und Walser gibt uns mit seiner Erklärung zum Traumhausbau selbst eine Art Schlüssel an die Hand: „Meine Träume müssen nicht gedeutet oder gar nach den billigsten Schlüsseln übersetzt werden, sie sind mir lieb und wert, so wie sie vorkommen. Sie sind mir deutlich genug.“ „Das, was so übersetzenswert erscheint, das, was man nicht direkt zu verstehen glaubt, das ist oft aus allen Schichten.“ Für Walser ist das am schlimmsten Vorstellbare (peinliche sexuelle Abläufe, aber auch Bloßstellungen mit Fäkalienabgängen) im Traum schnell erreicht. Da gibt es keine großen Umwege oder gar Ausweichmöglichkeiten. Für ihn sind Träume wie rohes Fleisch. „Den Träumen kann man trauen, mehr als allem sonst“ lautet eines seiner Credos. Dabei bleibt er oftmals in seinem lokalisierten Umfeld, in seinem Geburtsort Wasserburg oder an seinem Wohnort Überlingen am Bodensee. Ihm ist der von der Psychoanalyse empfohlene Umgang mit Träumen völlig fremd. Schon das Bedürfnis, Träume zu deuten, kommt ihm absurd vor. Für ihn hat der Traum keine eigene Ebene, weil er sich aus allen Ebenen bedient. Walsers Traumbuch hat mit Cornelia Schleimes „Postkarten aus dem Schlaf“ noch eine zweite Ebene. Schleime steuerte Übermalungen bei, die Walsers Texte nicht illustrieren, sondern eine völlig eigenständige, kongeniale Qualität besitzen. Dabei malt sie immer über das Bild hinaus und verbindet realistische Abbildungen mit surrealistischen Weiterführungen. Eine Verbindung lässt sich dennoch herstellen, wenn man auf den Postkarten Ortsangaben wie „Bodensee“, „Ueberlingen am Bodensee, Barfüßertor“ oder „Insel Reichenau mit Schloß Salenstein“ entdeckt. 

Martin Walser, Das Traumbuch/Cornelia Schleime, Postkarten aus dem Schlaf,
Rowohlt, 2022, 144 Seiten, 24,00 €

Siggi Liersch
arbeitet als Schriftsteller, Liedermacher und Kritiker in Mörfelden-Walldorf;
siegfried.liersch@gmx.de

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