Im kollektiven Gedächtnis

Von Siggi Liersch.

Nahezu jeder kennt irgendeinen Song von Bob Dylan, dem wohl bekanntesten Singer/Songwriter weltweit. „Blowin‘ in the wind“ mag als bekanntestes Beispiel dafür herhalten.

Dylan ist das Vorbild von Tausenden, die zur Gitarre greifen, um ihrem Protest, gesellschaftlicher oder persönlicher Art, und ihrem Unbehagen, aber auch ihren Gefühlen und romantischen Vorstellungen mit eingängigen Melodien und lyrischer Sprache Ausdruck zu verleihen. Ihr großes Vorbild: Bob Dylan, der als erster Liedermacher 2016 sogar den Literaturnobelpreis verliehen bekam. Dylan lässt sich nicht ausrechnen, man kann nicht vorbestimmen, was er als nächstes machen wird. Und so ist der Band „Die Philosophie des modernen Songs“ eine Überraschung, nachdem er vor zwanzig Jahren seine „Chronicles“, ein Bericht über seine Anfangsjahre, veröffentlicht hat. Im aktuellen Buch, das reich mit zeitgenössischen Bildern versehen ist, erzählt er die Geschichte von 66 Songs, die Geschichte von Liedern, die ihm während seines Schaffens als wichtig erschienen. Mit seiner Song-Auswahl wird der Band naturgemäß sehr persönlich. Dylan beschreibt, was das Geheimnis von Liedern wie „Strangers in the night“ oder „Don’t let me be misunderstood“ für ihn ausmacht, und er geht einen Schritt weiter, wenn er über das philosophiert, wovon sie handeln. Dabei kommt vieles zur Sprache: seine Einschätzung des Zustands der Welt, der seelischen Abgründe des modernen Menschen, aber auch der zahllosen Konflikte innerhalb der Gesellschaft. Dylan hat alles Geschriebene immer als Material für sein eigenes Schaffen betrachtet und so besitzen seine Lieder durchaus die poetische Kraft eines Bibelverses oder beispielsweise der Lyrik von Rimbaud. Es ist anzunehmen, dass ihn auch fremde Songs so beeindruckt und geprägt haben, dass er sie sich in typisch dylanesker Annäherung fremder Lyrik angenommen hat. Er wird dadurch keinesfalls zu einem Kopisten, sondern zu einem Weiterentwickler und Erzähler mit fundamentalen Ausmaßen. Wenn man Dylan hört, seine Lyrik oder auch diese sehr persönlichen Interpretationen zu fremden Songs liest, hat man das Gefühl, dass man mit etwas Wichtigem in Berührung kommt. Keine Frage: Dieser Band ist ein weiterer Baustein in seinem Werk, das bereits mit unzähligen Interpretationen, Artikeln und Doktorarbeiten gepflastert ist. Und das erreicht eben nur einer, der wie ein Schwamm alles aufsaugt, um es individuell verändert wieder in die Öffentlichkeit zu entlassen. In diesem Zusammenhang fällt mir nur Leonard Cohen ein, der mit ähnlicher Intensität, auch wenn er zeitlich gesehen an seinen Texten wesentlich länger gearbeitet hat, seine Lieder präsentiert. Was erwartet also den Leser? Er kommt in den Genuss von Songinterpretationen, die so witzig wie mysteriös daherkommen und Satz-Meditationen eines unnachahmlichen Genies freilegen. Dylan schafft es, mit diesen subjektiven Lied-Erklärungen ein lesevergnügliches Feuerwerk zu entfachen und die Leser auf Fährten zu locken, an die sie vor der Lektüre noch gar nicht gedacht haben. So versteht eben nur Dylan die populäre Musik, es ist seine Sichtweise. Man kann sich ihr anschließen oder auch darüber nachdenken, welche musikalischen Grundsätze man selbst hat. Nun hat der C.H. Beck Verlag auch eine ungekürzte Fassung dieses Buches als Hör-CD veröffentlicht. Siebeneinhalb Stunden liest Wolfgang Niedecken die deutsche Übersetzung. Ein sehr ehrenwertes Unterfangen, aber wäre das Geld nicht besser in einer CD-Produktion angelegt gewesen, auf der alle 66 Songs vertreten wären? Man hätte sich die Songs anhören und dazu die jeweiligen  Interpretationen des Meisters lesen können! Vielleicht wird das ja noch realisiert. Zu wünschen wäre es, denn man isst ja lieber eine Tomatensuppe, als nur von ihr erzählt zu bekommen!

Bob Dylan. „Die Philosophie des modernen Songs“
Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch, C.H. Beck, 2022, 352 Seiten, 35 Euro

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