Knut Hamsuns „Hunger“
Von Siggi Liersch.
Als ich vor etwa einem halben Jahrhundert zum ersten Mal „Hunger“ von dem norwegischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Knut Hamsun (1859 – 1952) las, geschah dies in der allgemein gültigen Übersetzung von J. Sandmeier und S. Angermann. In der ehrwürdigen Bibliothek Suhrkamp war meine Ausgabe 1972 erschienen und begann mit den Zeilen „Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist…“
Ich war sofort mittendrin in diesem langen Monolog. Der umstrittene Autor Hamsun zeigt in seinem Debütroman das Elend der Armut. Sein Roman ist ein Künstlertext über einen anonymen Ich-Erzähler. Dieser hält sich als verkrachter Schriftsteller in Kristiania, dem heutigen Oslo, mehr schlecht als recht mit Feuilletons über Wasser. Vor Hunger gehen ihm sogar die Haare aus. Bekommt er doch einmal ein Honorar für seine Arbeit, fühlt er sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Das funktioniert aber nur so lange, bis er das Geld ausgegeben hat. 2023 hat Ulrich Sonnenberg die Urfassung des grandiosen Werks neu übersetzt. Er macht vieles anders als seine Vorgänger. Allerdings geht er als Übersetzer ins Deutsche als erster auf die Urfassung des Romans zurück, der im Lauf der Jahrzehnte von Hamsun selbst verändert wurde. In vielen blasphemischen Äußerungen, die ab 1899 nicht mehr im Roman stehen, wendet sich der Erzähler in der Art eines Hiob an Gott, der ihn verlassen hat. Er lässt ihn hören, wie sehr er ihn dafür verachtet. Er staffiert zwar seine Rede mit Bibelanspielungen wie „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“ aus dem Evangelium nach Matthäus aus, das macht er aber nur, um Gott ins Lächerliche zu ziehen und ihn auf die Sinnlosigkeit seiner teleologischen Versprechungen hinzuweisen. Seinem Elend zum Trotz meint der Erzähler allerdings, er sei Gott überlegen. Auch am Tag des Jüngsten Gerichts möchte er das Urteil des Herrn verspotten. Solche irrationalen und auch widersprüchlichen Ausfälle sind kennzeichnend für Hamsuns Roman, denn der Hunger lässt seinen Protagonisten auch im metaphysischen Sinne irre werden. Somit gibt es keinen Grund, die Beschimpfung irgendwie abzuschwächen. Sonnenberg behält in seiner Übersetzung den scharfen Ton bei: Im Himmelreich seien nur schwachköpfige Idioten und fette, selige Huren anzutreffen. Bei Sandmeier, dem nur die überarbeitete Fassung vorlag, klingen die Vorwürfe an Gott nicht halb so bissig. Sie werden aufgrund der Hamsunschen Textänderungen auch lange nicht so ausführlich dargestellt. In der deutschen Übersetzung von 1921 kündigt der Erzähler nur an, er werde Gott verhöhnen und dessen Gnade bespeien. So ist Sandmeiers Übersetzung völlig aus der Mode gekommen und höchstens noch für diejenigen von Belang, die sich mit Hamsuns Rezeption in Deutschland vertraut machen wollen. Sonnenberg, der an den Anfang zurückgeht und den Text in seiner ursprünglichen, wilderen Form ins Deutsche holt, dürfte der deutschsprachigen Hamsun-Rezeption einige neue Facetten hinzufügen. Die Frage erhebt sich, weshalb Hamsun an seinem Erstling im Lauf der Jahre so herumgedoktort hat? Vielleicht hat er mit den Streichungen auf negative Rezensionen reagiert. Ihm wurde 1890 vorgeworfen, dass er unsittlich sei. Das Bedauerlichste an dem Buch sei, dass sein Autor ab und an offenbar in voller Absicht zynische Worte und Bilder verwende, etliche Seiten dieses Buches besudele, und damit zweifellos die Abscheu gebildeterer Leser hervorrufe. Felicitas Hoppe bringt es in ihrem Nachwort auf den Punkt: „Hamsun erweist sich, zwischen Mensch und Insekt, als Großmeister der kleinteiligen Alltagswahrnehmung, als hoch neurotischer Naturalist sozusagen, der die trüben Erzählschemata der Tradition genial überwindet.“
Knut Hamsun, Hunger, nach der Erstausgabe von 1890 aus dem Norwegischen übersetzt von Ulrich Sonnenberg, Nachwort von Felicitas Hoppe, Manesse Verlag, München 2023, 252 Seiten, 25 €