Komm‘ ins Offene, Freund!
Von Siggi Liersch.
Lyrik ist die offene See im Bereich des Geschriebenen, die man gewinnen kann, wenn man es über sich bringt, Gedichte einfach mal wieder zu lesen. Sie ist das Abenteuer, das man besteht, wenn man sich auf sie einlässt. Über die Balladen und Gedichte von Christoph Ransmayr.
Gedichte können überlebenswichtig sein. Damit sind keine Verse gemeint, die an karnevalistische Büttenreden erinnern, die nach dem Motto „Reim‘ dich oder ich fress‘ dich!“ vorgehen. Damit sind Zeilen gemeint, die den Lesenden etwas angehen, die ihn mitnehmen auf eine Sprachfahrt, nach deren Verlauf er sich glücklich schätzt, sie angetreten zu haben. Es mag sein, dass man durch Lyrik kein besserer Mensch wird, aber man wird sicherlich dadurch auch kein schlechterer. Gedichte sind Stellungnahmen in der kürzesten Form menschlicher Äußerung und besonders für den modernen Menschen geeignet, der sich in ständiger Zeitnot befindet. Gedichte können geschichtliche und gesellschaftliche, aber auch privateste und romantischste Zusammenhänge zum Thema haben. Christoph Ransmayr berichtet in seinem Gedichtband „Unter einem Zuckerhimmel“ von der mit Rätseln erfüllten Kindheit, deren Erzählungen er vor allem als Gesänge gehört hat. Die ersten Geschichten in seinem Leben hörte er gesungen – von seiner Mutter und einer Magd. Ransmayr folgt diesem Beispiel nun in eigenen Balladen und Gedichten, in denen er sich nicht nur in das Blau des Himmels oder an den Meereshorizont begibt, es geht bei ihm auch um Erkundungen in der Welt sowie um Reisen durch die Zeit. Es sind allesamt erzählende Gedichte, die man auch als lyrische Prosa bezeichnen könnte. Da sind die Grenzen fließend. Ransmayr ist ein genauer Beobachter, wenn er die „Jägerin im Sonnenbad“, eine Katze mit all ihren Jagdgelüsten und – erfolgen, in ihren Bewegungsabläufen beschreibt und aus sich heraus leben lässt: „Daß sie jetzt ihre Pfoten leckt,/ ist Schönheitspflege und dient allein/ dem mattschwarzen Glanz ihres Fells,/ denn die erste Reinigung vom Blut/ oder der Krätze ihrer Opfer/ geschah unmittelbar nach der Jagd/ und noch in tiefer Dunkelheit.“ Katzenliebhaber entdecken darin durchaus das Verhalten ihrer eigenen Lieblinge, es sind übliche Verhaltensweisen, die nicht aus dem Rahmen fallen. Man kann diese Gedichte auf ihre wohltuende Normalität abklopfen, auf ihre Bodenständigkeit und wird dabei von den Illustrationen von Anselm Kiefer unterstützt. Kiefer tropft Aquarellfarben auf Zeichenpapier und es entstehen Gebilde je nach Wasser- und Farbaufkommen. An den Rändern hat er Verse aus den Gedichten in einer Art Kinderschrift geschrieben, die auch an diese grundsätzliche Rückbesinnung des gesamten Bandes erinnern. So entwickelt Kiefer eine parallele Qualität zu Ransmayrs Gedichten. Er hat eine Serie von Aquarellen geschaffen, zusätzlich versehen mit Bleistift und Kohle auf Gips und Karton, die er ausschließlich für diesen Band entwickelt hat. Fehlerhafte Wortschreibungen verweisen ebenfalls auf Bezüge zur fehlerbehafteten Kindheit, in die man sich vielleicht zurücksehnt, die aber im Erwachsenenalter gerne als verklärt wahrgenommen wird. Mit den Farbspielereien sind Zufallsbilder entstanden, die dank der spielerischen Entstehungsmomente durchaus ihren Reiz haben. Man kann sich gemeinsam mit Ransmayrs Lyrik in sie versenken und so meditativen Momenten nachgehen. Leser und Leserin halten einen großformatigen und opulent ausgestatteten Band in den Händen, auch buchtechnisch ist es eine wunderschöne Ausgabe geworden. „Unter einem Zuckerhimmel“ erscheint als der zwölfte Band in Christoph Ransmayrs Reihe „Spielformen des Erzählens“.
Christoph Ransmayr, Unter einem Zuckerhimmel –
Balladen und Gedichte, illustriert von Anselm Kiefer,
S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2022, 208 Seiten, 58 €