Millionen auf der Flucht

Von Siggi Liersch.

Der Literaturredakteur und Schriftsteller Uwe Wittstock schildert in „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ keineswegs nur die Schicksale der jüdisch-deutschen Künstler und Intellektuellen, die nach 1933 vor den Nationalsozialisten nach Frankreich flohen, um schließlich nach weiteren Fluchtmöglichkeiten suchen zu müssen.

Insbesondere dank Varian Fry und seines Emergency Rescue Committees sowie seiner amerikanischen und deutschen Mitstreiter fanden viele Verfolgte glücklicherweise Möglichkeiten des Entkommens. In seinem Vorwort schreibt Wittstock, dass sich im Mai und Juni 1940 acht bis zehn Millionen Menschen zur Flucht gezwungen sahen. In so einem kurzen Zeitraum war dies vielleicht eine der gewaltigsten Fluchtbewegungen, die Europa jemals erlebt hat. Das Schicksal der meisten Menschen ist schriftlich nicht festgehalten worden. Stellvertretend für diese ist es die „Prominenz“ der auch heute noch bekannten Künstler und Künstlerinnen. Man begegnet etwa Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger oder Heinrich Mann, denen die Flucht auf abenteuerliche Art und Weise gelang. Aber auch an das tragische Schicksal von Walter Benjamin soll hier erinnert werden, der sich an einer Grenzstation in den Pyrenäen umbrachte, weil ihm die Grenzbeamte die Weiterreise nach Spanien verweigerten. Ihre Werke hatten die Nationalsozialisten zu diesem Zeitpunkt längst verbrannt, aber man wollte ihrer natürlich auch körperlich habhaft werden. So standen ihre Namen auf den ersten Ausbürgerungs- und Fahndungslisten. Mit seinem Buch „Februar 33 – Der Winter der Literatur“, das 2021 erschien und im WIR-Magazin auch ausführlich besprochen wurde, legte Wittstock den Grundstein für seine spannenden Darstellungen. Hier im Folgeband, der natürlich auch völlig für sich allein stehen kann, vertieft er dieses Thema der Vertreibung, Verfolgung und Entwurzelung.

Seine Vorgehensweise erläutert Wittstock im Vorwort äußerst anschaulich: „Für alles, was hier erzählt wird, gibt es Belege, nichts wurde erfunden. Die Belege stammen aus den Briefen und Tagebüchern, Erinnerungen, Autobiografien und Interviews einiger großer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Theaterleute, Intellektuelle, Künstler und Künstlerinnen. Diese Menschen stehen im Mittelpunkt des Buches. Neben ihnen waren zahllose Unbekannte den gleichen Gefahren ausgesetzt. Doch deren Lebensspuren gingen im Chaos von Krieg und Flucht verloren. Die Schicksale, von denen hier berichtet wird, sollen deshalb stellvertretend stehen für alle die, von denen wir zu wenig wissen, um noch von ihnen erzählen zu können. Ich möchte das Buch den unbekannten Flüchtlingen widmen, die damals in Frankreich um ihr Überleben kämpften. Viel zu viele vergeblich.“ Wittstocks Darstellungen umfassen einen Zeitraum von Mai 1940 bis November 1941. In diesen eineinhalb Jahren passiert so unglaublich viel, dass einen bereits die Lektüre atemlos macht. Hitler ist auf der Höhe seiner Macht. Seine Truppen stürmen an allen Fronten unaufhaltsam vorwärts. Es wird noch einige Monate dauern, bis sich die Alliierten soweit gefangen haben, ernsthaft in der Lage zu sein, der Willkür eines Verächters jeglicher Menschlichkeit und Kultur wirksamen Widerstand entgegensetzen zu können. Dank der sorgfältig recherchierten Materialfülle erhalten wir ein farbiges und pralles Bild einer Zeit, die der unseren gar nicht so weit entfernt scheint.

Im Anhang umfasst die von Wittstock benutzte Literatur etwa einhundertfünfzig Titel. Um einen zusätzlichen Eindruck zu erhalten, las ich Feuchtwangers „Der Teufel in Frankreich. Erlebnisse 1940“. Es soll hier als zusätzliche Empfehlung aufgeführt sein. War es nicht Brecht, der konstatierte „der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“? Und wir? Welches Fazit ziehen wir daraus? Gibt es unter uns genügend Wachsame, die bereit sind, die Demokratie auf Dauer wirkungsvoll zu stärken? Als ehemaliger Lehrer empfehle ich dieses Buch als Schullektüre!

Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur; C.H. Beck, 2024, 351 Seiten, ISBN: 978-3-406-81490-7; 26 €.

Siggi Liersch
arbeitet als Schriftsteller, Liedermacher und Kritiker;
siegfried.liersch@gmx.de

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