Palais Lobkowicz

Von Klaus Meinke.

Jeder kennt die Situation, wenn, ausgelöst durch ein bestimmtes Ereignis oder den Jahrestag einer historischen Begebenheit, plötzlich eigene Erinnerungen an die Oberfläche kommen. In unserer neuen Reihe lässt uns der ehemalige Stadtverordnetenvorsteher und neue Vorsitzende des Fördervereins Stadtmuseum Klaus Meinke regelmäßig an seinen Erinnerungssplittern teilhaben.

Das Palais Lobkowicz in Prag wäre niemals so berühmt geworden, wenn nicht der damalige Außenminister unseres Landes, Hans-Dietrich Genscher, am 30.9.1989 den dort versammelten Flüchtlingen ihre Ausreise nach Westdeutschland verkündet hätte.

Mit meinem Leistungskurs Politik war ich in Prag zur Abschlussfahrt, und die Rückfahrt war mit dem Bus am 1. Oktober geplant. Schon während der Vorbereitung auf die Fahrt und insbesondere in den Wochen und Tagen direkt vor der Abreise war ein Strom von Flüchtlingen nach Prag in die Botschaft der Bundesrepublik geflohen. Bilder davon waren im Fernsehen zu sehen. Es war also einfach, die politisch interessierten Schülerinnen und Schüler zu einem Spaziergang zur Botschaft zu motivieren. Inzwischen waren die Räume der Botschaft schon überfüllt, und im weiten Gartengelände waren Flüchtlinge in Zelten untergebracht. Ein hoher Staketenzaun umschloss das Gelände, ein schmaler Fußweg ermöglichte Besuchern einen Gang entlang und dadurch einen guten Einblick. Da standen wir und sahen staunend Hunderte von Flüchtlingen. Eine Doppelstreife der Prager Polizei ging ungerührt an uns vorbei. Noch während wir da standen, kamen Menschen mit leichtem Gepäck, und schon flogen die Gepäckstücke über den Zaun, schon waren auf der anderen Seite kräftige Männerhände bereit die Kletternden zu unterstützen. Selbst wir Zuschauer wurden gebeten, mal zu helfen und einer Frau, deren Mann schon „drüben“ war, die Baumleiter zu machen. Lautes Stimmengewirr und aufgeregte Diskussionen schallten über den Garten, der längst zertrampelt war.

Fassungslos hörte ich Fetzen der Unterhaltung, wie Fragen nach der Herkunft oder Anreise. Aber völlig erstaunt war ich, als ich plötzlich von einem jungen Mann von drinnen angesprochen wurde. Er reichte mir einen Autoschlüssel durch den Zaun und bat mich aus seinem Auto noch eine Tasche und Decke zu holen. Er konnte mir gut beschreiben wo das Auto stand und eine halbe Stunde später war ich wieder am Zaun und warf dem erfreuten Empfänger die Sachen über den Zaun.

Am nächsten Tag sollte uns der Bus um 8 Uhr am Hotel abholen. Mit großer Verspätung kam er, weil eine Kolonne von Bussen vom Palais Lobkowicz zum Bahnhof fuhren. Genscher hatte am Abend die Ausreise verkündet.

Wir hatten Geschichte gesehen und waren selbst ein Teil davon.

Klaus Meinke
ist ehemaliger Stadtverordnetenvorsteher
in Groß-Gerau;
klaus.meinke@t-online.de

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